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Dietmar Bartsch © DBT/Inga HaarFoto: DBT/Inga Haar

Warme Dusche oder warmes Essen? Im Teuer-Winter darf niemand vor dieser Wahl stehen

Im Wortlaut von Dietmar Bartsch, Focus,

Gastbeitrag von Dietmar Bartsch im Focus

Corona kommt mit voller Wucht zurück. Gleichzeitig explodieren die Preise für Gas und Strom. Und über die belarussische Grenze und Polen kommt das Flüchtlingsthema zurück nach Ostdeutschland. Die Ampel-Verhandler müssen sich jetzt schnellstens den Herausforderungen des Winters stellen.

Der Koalitionsvertrag ist noch nicht beschlossen, die neuen Ministerinnen und Minister noch nicht vereidigt. Angela Merkel führt weiterhin die Amtsgeschäfte. Aber die großen Herausforderungen warten nicht auf die neue Bundesregierung. Sie sind längst da und treffen auf eine von Krisen ausgelaugte und an vielen Stellen gespaltene Gesellschaft.

Drei Herausforderungen muss die Ampel jetzt lösen

Schien es bisher so, als könnten die Liberalen mit ihrem Anti-Sozial-Programm zum größten Problem für Olaf Scholz werden, so zeichnet sich ab, dass sich der sozialdemokratische Himmel von zwei Seiten dunkel verfärbt. Einerseits durch vollmundige Versprechen aus dem Wahlkampf, die bereits kassiert sind. Andererseits durch drei gewaltige Herausforderungen, vor denen das Land aktuell steht:

1. Corona ist nicht vorbei, sondern wieder voll da. Die Regierung hat die Booster-Kampagne komplett verschlafen. Die Zahlen sind teils dramatischer als vor einem Jahr.

2. Die Energiekosten sind außer Kontrolle, explodierende Preise entwerten Löhne und Renten.

3. In Ostdeutschland und in Polen ist über die belarussische Grenze das Flüchtlingsthema zurück. Das Thema bleibt die offene Flanke der Europäischen Union. Das aktuelle Machtvakuum in der Bundespolitik verschärft die Probleme, an denen Sozialdemokraten, Grüne und Liberale auch noch weitergehend vorbei verhandeln.

Dass die Corona-Krise nie weg war, ist unstrittig. Sie könnte in diesem Winter sogar mehr Schaden anrichten als vor einem Jahr. Von Beginn an ist die Verzagtheit der Großen Koalition der Pandemie gefolgt und hat mit Regelmäßigkeit das Notwendige vermissen lassen.

Es darf nicht wieder um Egoismen von Ministerpräsidenten gehen

Der Impfschutz lässt mit der Zeit nach, das ist keine Überraschung. Die anstehenden Booster-Impfungen für Risikogruppen hätten viel früher vorbereitet werden müssen. Dass die Ampel-Verhandler die Corona-Pandemie an die Bundesländer delegieren, ist zwar sinnvoll mit Blick auf das Infektionsgeschehen vor Ort, aber kontraproduktiv, um der Pandemie endlich Wind aus den Segeln zu nehmen und einen neuerlichen Flickenteppich zu verhindern.

Es darf in diesem Winter nicht dazu kommen, dass wieder Egoismen von Ministerpräsidenten die Pandemie-Bekämpfung bestimmen. Stattdessen sollten die Krankenkassen ins Boot geholt werden. Sie können bundesweit Versicherte anschreiben, für Impfungen werben, Ansprechpartner aufzeigen und Termine koordinieren.

Bürgerinnen und Bürger brauchen bundesweit das Versprechen, das Booster-Impfungen unkompliziert zur Verfügung stehen und unsoziale Schulschließungen sich in keinem Fall wiederholen werden. Bund und Länder dürfen in diesem Winter nicht die Kontrolle über die Pandemie verlieren. Dafür ist auch eine neue Teststrategie notwendig, wenn immer mehr Geimpfte das Virus weitertragen.

Wir brauchen einen Winter-Energieplan

Wenn der größte Niedriglohnsektor Europas auf stark steigende Lebenshaltungskosten trifft, dann ist Gefahr in Verzug. Die Inflation ist mit Wucht da. Sie trifft diejenigen besonders, die über wenig Einkommen verfügen. Für Durchschnittsfamilien, Rentnerinnen und Rentner oder Pendlerinnen und Pendler sind rapide steigende Preise kein Grund für volkswirtschaftliche Debatten, sondern reale Einschnitte.

Wir dürfen nicht zulassen, dass Menschen vor der Entscheidung stehen: Heizung oder Lebensmittel? Warme Dusche oder warme Suppe? Der Teuer-Winter steht vor der Tür. Wer heute Heizöl ordert oder im kommenden Jahr die Nebenkostenabrechnung erhält, erlebt einen Preisschock. Die Ampel-Verhandler sollten einen Winter-Energieplan vorlegen, der Bürger entlastet.

2019 wurden sinkende Strompreise versprochen. Bei der EEG-Umlage abzurüsten, gleicht nicht im Ansatz aus, was an der Supermarktkasse oder an der Tankstelle zusätzlich gezahlt werden muss. Und hinzukommt: Steuern Scholz, Baerbock und Lindner nicht in Richtung klimapolitischer Effektivität um, dann schraubt der Staat mit der nächsten Stufe der CO2-Bepreisung ab Januar weiter an den Preisen. Hier ist Verzicht angesagt. Nicht für den einzelnen Bürger, sondern für den Fiskus.

Der CO2-Preis reduziert die Emissionen im Verkehrsbereich bis 2025 um winzige 2,5 Prozent – so die Prognose der Bundesregierung. Für Mieterinnen und Mieter bewirkt er außer Belastungen nichts. Der CO2-Preis so ist ineffektiv und sollte in dieser Form die Koalitionsverhandlungen nicht überleben.

Masterplan "Schiene statt Straße"

Warum werden immer mehr Güter in endlosen LKW-Lawinen über unsere Straßen transportiert? Wir brauchen zum Beispiel einen Masterplan "Schiene statt Straße" für den Güterverkehr, um die Pariser Klimaziele einzuhalten. Es ist ein klima- und sozialpolitischer Wahnsinn, dass jetzt die Preise im ÖPNV vielerorts erhöht werden, während zeitgleich in Glasgow die Weltklimakonferenz stattfindet. Wo bleibt der Klimaaufschrei?

Wir brauchen das Gegenteil: Keine Tageskarte in Deutschland sollte teurer als ein Euro sein. Dafür muss die Ampel die Mittel bereitstellen. Der Finanzminister in spe mag sich über steigende Einnahmen durch höhere Energiepreise freuen, aber wer steigende Einnahmen generieren will, darf nicht die Polo-Fahrerin zur Kasse bitten, sondern sollte an zwei Stellschrauben drehen: den unangetasteten Milliardenvermögen, vor die sich schützend die FDP schmeißt, und die investitionsfeindliche Schuldenbremse, die dafür sorgt, dass unsere Schulen verfallen.

Rund 500 Milliarden Euro will Joe Biden in den USA in saubere Energien investieren. In der hiesigen Diskussion fehlen konkrete Investitionszusagen des für die Energieversorgung zuständigen Staates, während die Bürgerinnen und Bürger über Verzichtsdebatten und Preissteigerungen in die Verantwortung genommen werden.

Auch zwölf Euro Mindestlohn führen in die Altersarmut

Olaf Scholz wollte 96 Prozent der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler entlasten. Die FDP hat diesem Anliegen den Stecker gezogen, bevor Scholz und auch die Grünen Wahlversprechen rufen konnten. So wird aus einem Entlastungsversprechen der SPD eine Belastungsrealität der Ampel. Das Versprechen stabiler Renten steht, aber angesichts von galoppierenden Lebenshaltungskosten ist Stabilität nichts anderes als eine reale Kürzung. Setzt sich die FDP in den Koalitionsverhandlungen finanzpolitisch so geschmeidig durch, wie bei den Sondierungen, sind die Wahlversprechen der SPD verpufft, bevor die erste Ministerin vereidigt ist.

Selbstverständlich steht die Erhöhung des Mindestlohns auf der sozialdemokratischen Habenseite. Das ist gut so. Aber die Anhebung bewirkt zu wenig, da explodierende Kosten sie auffressen und Entlastungen abgesagt werden. Der FDP übrigens fällt die Erhöhung des Mindestlohns im Vergleich zu einem Umsteuern in der Steuerpolitik auch deshalb so leicht, weil sie weiß: Das geringste Problem ihrer Klientel sind die Lohnkosten am untersten Ende. Beim Stichwort stabile Renten dürfen wir nicht vergessen: Auch zwölf Euro Mindestlohn führen in die Altersarmut.

Olaf Scholz "erbt" aus seiner Vizekanzlerschaft auch eine dritte Herausforderung. Die Große Koalition ist auf europäischer Ebene mit einer Lösung in der Asylpolitik gescheitert. Europa bleibt erpressbar. Im Umgang mit Minsk hat der Weg über Sanktionen nicht zum gewünschten Ergebnis geführt. Weder wurde die Opposition gestärkt (oder frei gelassen), noch wurden die europäischen Herausforderungen angegangen. Dass Lukaschenko Menschen auf der Flucht als machtpolitischen Spielball missbraucht, ist zynisch, aber wenig überraschend. Der nächste Erpressungsversuch von Despot Erdogan ist jederzeit möglich.

Die Staaten Osteuropas dürfen sich nicht weiter aus der Verantwortung stehlen

Es ist blamabel, dass die EU 2021 von einer europäischen Antwort auf diese Herausforderung so weit entfernt ist wie 2015. Die Ampel muss deshalb schnell raus aus dem Kokon des Wahlsiegs und rein nach Europa. Menschen, die das Recht auf Asyl haben, dürfen an den Außengrenzen nicht mit Schlagstock und Stacheldraht malträtiert werden.

Die neue Bundesregierung muss in der EU eine Basis dafür schaffen, dass sich die Staaten Osteuropas nicht weiter aus der Verantwortung stehlen. Derzeit erleben wir das Gegenteil: Die geschäftsführende Bundesregierung duckt sich weg und zeigt auf Länder und Kommunen, in diesem Fall allein auf ostdeutsche. Eine Flüchtlingspolitik, die darauf hinausläuft, Kommunen und Bürgerinnen und Bürger vor Ort bei der Versorgung Schutzsuchender allein zu lassen, ist zum Scheitern verurteilt.

Die Ampel-Verhandler sollten sich schnellstens den Herausforderungen dieses Winters stellen. Der Koalitionsvertrag muss zügig Antworten liefern. Die Herausforderungen warten auf niemanden, auch nicht auf Wahlsiegerinnen und Wahlsieger.

Focus,