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Von Menschen in Armut ableiten, was Armut bekämpfen soll?

Nachricht von Katja Kipping,

Auswertung der Antworten auf eine Kleine Anfrage an die Bundesregierung

Die Kleine Anfrage von Katja Kipping u.a. zum Existenz und Teilhabeminimum hinterfragt die Prinzipien und Vorgehensweisen der Bundesregierung bei der Ermittlung des soziokulturellen Existenzminiums durch das sogenannte Statistikmodell mit den Daten der Einkommens und Verbrauchsstichprobe. Mit diesem Verfahren wird von den Konsumausgaben einer sogenannten Referenzgruppe auf das notwendige menschenwürdige Existenz- und Teilhabeminimum geschlossen. Dieser Schluss ist äußerst problematisch: Mit welcher Berechtigung ist es zulässig, von dem Verbrauch von Menschen, die kaum Geld zum Ausgeben haben, auf den Bedarf von Menschen zu schließen?

Die konkreten Antworten der Bundesregierung unterfüttern die Zweifel an der Sinnhaftigkeit und Zulässigkeit des gewählten Verfahrens:

Erstens bestätigt die Bundesregierung, dass alle in der sogenannten Referenzgruppe einkommensarm sind. Das maximale Einkommen in der Referenzgruppe beträgt 901 Euro. Die Armutsrisikogrenze nach der Einkommens und Verbrauchsstichprobe (EVS) beträgt 1063 Euro (2008). Das durchschnittliche Einkommen der Referenzgruppe liegt sogar mit 716 Euro rund 350 Euro unter der Armutsrisikogrenze (Fragen 13 und 14).

Das ist zweitens nicht verwunderlich, weil fast 70 Prozent der Personen in den Referenzgruppen Menschen sind, die hauptsächlich von (niedrigen) Sozialtransfers leben nämlich: RentnerInnen (37,7 Prozent), Erwerbslose (20,3 Prozent), Studierende (11,3 Prozent). Lediglich 23,7 Prozent in der Referenzgruppe sind Erwerbstätige (Frage 11, Daten jeweils bezogen auf 2008, das ist die jüngste Datengrundlage).

Drittens stellt die Bundesregierung fest, dass in den Referenzgruppen das durchschnittliche Nettoeinkommen mit 716 Euro rund 130 Euro unter deren Ausgaben von 843 Euro liegen (Fragen 13 und 16). Das heißt, schon die Menschen in der Referenzgruppe müssen sich verschulden, entsparen, weil das karge Einkommen nicht zum Auskommen reicht.

Die sogenannte Statistikmethode ist hochgradig normativ, weil sie (willkürlich) Referenzgruppen bestimmt, deren einkommensbedingt geringe Ausgaben mit Sicherheit nur zu Armutsregelbedarfen führen.

„Von Armen wird abgeleitet, was eigentlich Armut bekämpfen und das soziokulturelle Existenzminimum sichern soll", sagt Katja Kipping dazu. "Das ist logischer und politischer Unsinn, mit dem Effekt, dass Millionen Menschen in Deutschland in Armut leben müssen und sozial ausgegrenzt werden.“

Darüber hinaus:

Die Verbrauchsausgaben der sogenannten Referenzgruppe (473 Euro ohne Ausgaben für die Wohnung, Frage 16) werden außerdem nicht eins zu eins übernommen, sondern nach „Regelbedarfsrelevanz“ gefiltert. Im Ergebnis werden daher lediglich nur drei Viertel (76 Prozent) der Ausgaben der Menschen in Armut als regelbedarfsrelevant anerkannt (Frage 17). Das Bundesverfassungsgericht sagt dazu: „Zwar ist es begründbar, einzelne Verbrauchspositionen nicht als Bedarfe anzuerkennen. Wenn in diesem Umfang herausgerechnet wird, kommt der Gesetzgeber jedoch an die Grenze dessen, was zur Sicherung des Existenzminimums verfassungsrechtlich gefordert ist.“ (BVerfG, 1 BvL 10/12 vom 23.7.2014, Rn. 121)

Auch bei der anstehenden Neuermittlung der Regelbedarfe ist zu befürchten, dass „ergebnisorientiert feingesteuert“ wird: In den jüngeren Neuermittlungen der Regelbedarfe wurde durch die Bundesregierung dergestalt „nachjustiert“, dass die Vorgaben der mittelfristigen Finanzplanung eingehalten wurden. Diese „Freiheit“ möchte sich die Bundesregierung offenbar nicht nehmen lassen. Weder plant sie das Verfahren im Detail vor der rechnerischen Regelbedarfsermittlung verbindlich festzulegen, noch soll das Parlament mit den konkreten Vorgaben an die konkrete Berechnung des Regelbedarfs befasst werden (Frage 20). Dazu heißt es in der Antwort: "Die konkrete Umsetzung einer Regelbedarfsermittlung obliegt dem Bundesgesetzgeber (§ 28 Absatz 1 SGB Xll). Dabei hat er die Einhaltung der in § 28 Absatz 3 SGB Xll geregelten Anforderungen zu überprüfen und durch Änderung oder Neufassung des Regelbedarfs-Ermittlungsgesetzes (RBEG) die erforderlichen Entscheidungen zu treffen. Dies sind insbesondere die Abgrenzung der Haushalte, deren durchschnittliche Verbrauchsausgaben zugrunde zu legen sind (Referenzhaushalte), und die Bestimmung derjenigen durchschnittlichen Verbrauchsausgaben der Referenzhaushalte (Verbrauchspositionen nach Abteilungen der EVS 2013), die für die Höhe der Regelbedarfsstufen als regelbedarfsrelevant zu berücksichtigenden sind."

Dazu noch einmal das BVerfG:

„Der für das Jahr 2011 ermittelte Regelbedarf der Stufe 1 nach § 8 Abs. 1 Nr. 1 RBEG entspricht zwar mit 364 Euro exakt dem Betrag, der sich auf der Grundlage des 2008 geltenden Regelsatzes, der um den jeweiligen aktuellen Rentenwert in der Gesetzlichen Rentenversicherung nach § 4 RSV in der Fassung bis 31. Dezember 2010 fortgeschrieben worden wäre, ergeben hätte.“ Dies sei aber „von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden“, da auf der „Grundlage belastbarer Zahlen“ und „nach Maßgabe vertretbarer Wertungen“ erfolgt (Rn. 91). Politisch ist ein derartiges Vorgehen aber sehr wohl und massiv zu kritisieren.

„Ein scheinbar ‚objektives‘ Vorgehen dient lediglich der Verschleierung, dass die Regelbedarfe im Vorhinein politisch gesetzt wurden", erklärt Katja Kipping. „Da die Bundesregierung die grundsätzliche Kritik an der Statistikmethode ignoriert, verbindliche Vorgaben zur Ermittlung der Regelbedarfe ablehnt und das Parlament nicht im Vorfeld einbezieht, ist Ähnliches auch bei der Regelbedarfsfestsetzung 2016 zu befürchten. DIE LINKE wird parlamentarisch mit einem Antrag, der diese Kritiken aufnimmt, dagegen vorgehen. Außerparlamentarisch werden wir mit einer Kampagne für eine vor Armut schützenden sanktionsfreien, individuellen Mindestsicherung werben."

linksfraktion.de, 11. November 2015