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Von einer Traumwelt in die nächste: Die Strategie EU 2020

Im Wortlaut von Alexander Ulrich,

Alexander Ulrich und Anne Karrass

Endlich ist es soweit: Wir schreiben das Jahr 2010, die EU ist der wettbewerbsfähigste und dynamischste wissensbasierte Wirtschaftsraum der Welt, mit dauerhaftem Wirtschaftswachstum, mehr und besseren Arbeitsplätzen und einem größeren sozialen Zusammenhalt. Zehn Jahre haben die EU und die Mitgliedstaaten gemeinsam dafür geschuftet. Hier und da wurde bemängelt, die soziale Dimension würde nicht genug berücksichtigt, aber die Kritiker verstummten, als das durch Liberalisierung und Deregulierung auf durchschnittlich 3% pro Jahr gesteigerte Wirtschaftswachstum und die „Flexicurity“-Strategie auf dem Arbeitsmarkt für ein wahres Beschäftigungswunder gesorgt und auf diese Weise Armut und soziale Ausgrenzung völlig zum Verschwinden gebracht hatten. In Deutschland wurde mit der Agenda 2010 - die sich eng an die europäische Politik anlehnte und diese auch als Rechtfertigung nutzte - Ähnliches vollzogen, mit ähnlich traumhaften Ergebnissen.

Vergleicht man den Traum der europäischen Staats- und Regierungschefs, die im Jahr 2000 die Strategie von Lissabon beschlossen haben, mit der Realität des Jahres 2010, könnte man ein schmerzhaftes Aufwachen vermuten: Das angestrebte Wachstumsziel von 3% pro Jahr wurde nur 2006 und 2007 knapp erreicht, 2009 schrumpfte die Wirtschaft um 4%. Die Arbeitslosigkeit liegt derzeit bei 9,5%, die Qualität der Arbeitsplätze lässt sich an der stetigen Zunahme der „Armutslöhner“ ablesen - bereits vor der Krise 8% der Erwerbstätigen. Ein größerer sozialer Zusammenhalt ist auf diese Weise auch nicht entstanden, im Gegenteil: fast jeder Fünfte lebt in der EU heute in Armut.

Die Strategie von Lissabon ist bei der Erreichung ihrer Ziele grandios gescheitert - doch die derzeitigen Diskussionen um die Post-Lissabon-Strategie vermittelt den Eindruck, als wollten die Politiker ihre Traumwelten noch nicht verlassen.

Der Traum von Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit: Die Strategie von Lissabon

Zuerst ein kurzer Blick zurück auf den alten Traum der Strategie von Lissabon. Sie entstand im Angesicht der Entwicklungen in den USA, genau wie dort sollte auch in der EU eine „New Economy“ mit wissensbasierter Wirtschaft und Informationsgesellschaft entstehen. Trotz anderslautender Bekundungen war die Strategie von Lissabon keine Abkehr von der Vorherrschaft neoliberaler Politik, im Gegenteil: Sie trieb diese noch stärker voran, indem sie die europäischen Politiken in eine „Geschichte“ einbettete, die einiges an Kritik zum Verstummen brachte: Die Geschichte vom gleichschenkligen Dreieck, dessen drei Seiten - Wirtschaft, Beschäftigung und Soziales - sich gegenseitig gleichberechtigt stützen und ergänzen und auf diese Weise die europäische Wettbewerbsfähigkeit erhöhen. Dies sieht grob skizziert folgendermaßen aus: Die Wirtschaftspolitik hält Preisniveau und staatliche Verschuldung stabil und vertieft den Binnenmarkt mit Hilfe von Liberalisierung und Deregulierung - z.B. mit Hilfe der Dienstleistungsrichtlinie. Die Beschäftigungspolitik beschränkt sich darauf, Arbeitsmärkte sowie ArbeitnehmerInnen zu flexibilisieren - Stichwort „Flexicurity“. Unterstützt wird dies alles von der sozialpolitischen Dimension: Eine „Modernisierung“ der Sozialsysteme soll die Staatshaushalte entlasten und Arbeit billiger machen, so dass Armut durch Aufnahme einer Beschäftigung beendet werden kann. Hätte man klar gesagt, dass man die europäische Wettbewerbsfähigkeit erhöhen will, indem man Löhne, Sozialstandards und Unternehmenssteuern senkt, wäre die Zustimmung zur Strategie vielleicht ein bisschen geringer ausgefallen…

Bei der Halbzeitbewertung der Strategie im Jahr 2005 wurde die Geschichte ein wenig verändert: Da auch zu dem Zeitpunkt schon deutlich wurde, dass die gesetzten Ziele kaum erreichbar waren, prägte die zur Überprüfung eingesetzte Expertengruppe um Wim Kok das Bild eines Zuges, der aufgrund seiner vielen Waggons nicht vom Fleck kommt. Die Lösung bestand folglich darin, die sozialen und ökologischen Waggons abzukoppeln. Dass sie ob ihres geringen Gewichts die neoliberale Bahnfahrt schon vorher kaum bremsen konnten und ihrer Bauweise nach die Windschnittigkeit des Zuges auch eher erhöhten, spielte dabei keine Rolle. Ab dem Zeitpunkt sollten die zentralen Ziele Wachstum und Beschäftigung auch rhetorisch fast ausschließlich über eine weitere Liberalisierung der Finanzmärkte und vertiefte Strukturreformen auf den Güter-, Dienstleistungs- und Arbeitsmärkten erreicht werden.

Neue, alte Träume? Die Strategie Europa 2020

Spätestens die Finanz- und Wirtschaftskrise hat deutlich gemacht, wohin eine Politik führt, die - wie die Strategie von Lissabon - einseitig auf eine Entfesselung der Märkte und eine Entmachtung der Politik setzt: Nicht zu mehr Wachstum und Beschäftigung, sondern zu mehr Arbeitslosigkeit, Armut und prekärer Beschäftigung. Wer vor diesem Hintergrund eine schonungslose Überprüfung der alten Strategie erwartet, sieht sich enttäuscht. Als Ursachen für das Scheitern der Strategie werden hauptsächlich drei Gründe genannt: Die Finanz- und Wirtschaftskrise, die Vielzahl der Ziele und die mangelnde Umsetzung der Strategie durch die Mitgliedstaaten. Dies übersieht jedoch erstens, dass die Strategie an der Finanz- und Wirtschaftskrise keinesfalls unbeteiligt war und zweitens, dass die Strategie ihre selbstgesteckten Ziele genau deshalb verfehlt hat, weil sie umgesetzt wurde: Die Mitgliedstaaten haben Märkte geöffnet, sie haben dereguliert, flexibilisiert und privatisiert. Als Motor des Neoliberalismus kann die Strategie insofern als Erfolg gewertet werden - aber so offen will das natürlich niemand aussprechen.

Der neue Ansatz lautet somit: Weniger Ziele, bessere Umsetzung - die falsche Medizin wird künftig höher konzentriert und mit mehr Nachdruck verabreicht. Im Konsultationspapier der Kommission war folglich auch das Ziel für die neue Strategie EU2020 fast unverändert: „Europa zu einem führenden, wettbewerbsfähigen, florierenden und vernetzten Wirtschaftsraum zu machen, der sich umweltfreundlicher und integrativer als bisher präsentiert, schnelles und nachhaltiges Wachstum aufweist und für ein hohes Maß an Beschäftigung sowie für sozialen Fortschritt steht.“supb>1 Als Ergebnis der Konsultation und auf Grundlage der Diskussionen im Europäischen Rat und Ministerrat schlug die Kommission im März dieses Jahres eine „Vision der europäischen sozialen Marktwirtschaft des 21. Jahrhunderts“ mit drei „sich gegenseitig verstärkenden Prioritäten“ vor: Intelligentes Wachstum, nachhaltiges Wachstum und integratives Wachstum. Um dies zu erreichen, sollen die Mitgliedstaaten sich auf fünf klar quantifizierte Kernziele einigen: Die Beschäftigungsquote soll auf mindestens 75%, die Investitionen in Forschung und Entwicklung auf 3% des Bruttoinlandsprodukts gesteigert werden. 40% der 30-34jährigen soll einen Hochschulabschluss haben, die Rate der Schulabbrecher auf unter 10% fallen. Jeder vierte Arme soll aus seiner Situation befreit werden. Schließlich werden auch die bereits im Vorjahr beschlossenen Klimaschutz-/Energieziele in die Strategie aufgenommen. Bis auf die Hochschulbildung sind alle Ziele entweder schon Teil der alten Strategie gewesen oder, wie die Umwelt- und Armutsziele, an anderer Stelle bereits beschlossen und nun in die Strategie aufgenommen worden - wobei die Umwelt- und Sozialverbände deutlich ambitioniertere Forderungen hatten. Die Bundesregierung hingegen sperrt sich intern vehement gegen das Ziel, die Armut zu verringern, weil sie keinen ausreichenden Zusammenhang zum Wachstumsziel sieht!

Bezüglich der Maßnahmen, mit denen die Ziele erreicht werden sollen, bleibt es ebenfalls beim „bewährten“ Alten, die Kommission schlägt hier sieben Leitinitiativen vor, viele schöne Worte, die bei genauerem Hinschauen das wahre Ansinnen nicht verbergen können. Um nur ein paar Beispiele herauszugreifen:

  • Intelligentes Wachstum: Was man unter „intelligent“ versteht, wird am Bildungsverständnis am deutlichsten: Bildung wird keinesfalls ganzheitlich verstanden, entsprechend sollen die Schullehrpläne auf „Kreativität, Innovation und Unternehmergeist“ ausgerichtet und die Bildungsergebnisse „besser auf den Bedarf der Arbeitsmärkte zugeschnitten“ werden.2
  • Nachhaltiges Wachstum: Das erste unter dieser Überschrift genannte Ziel ist bezeichnenderweise die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit - unter anderem durch die Beibehaltung der Führungsrolle auf dem Markt für umweltfreundliche Technologien.3 Da verwundert es nicht, wenn in Folge fast ausschließlich marktbasierte Instrumente zum Schutz von Umwelt und Klima vorgeschlagen werden. Die zaghaften Vorschläge für eine europäische Industriepolitik, z.B. durch einen neuen europäischen Fonds und gezielte Umstellungspläne für einzelne Industriezweige, sind - auch durch deutschen Druck - im endgültigen Kommissionsvorschlag nicht mehr zu finden.
  • Integratives Wachstum: Auch wenn die Kommission selbst eine Zunahme der arbeitenden Armen feststellt, soll Beschäftigung weiterhin über eine stärkere Mobilität und Flexibilität (Stichwort: 2. Phase der Flexicurity-Strategie) geschaffen werden. Zusätzlich wird eine „intelligente“ Anpassung des gesetzgeberischen Rahmens im Bereich Arbeitszeit und entsandte Arbeitnehmer gefordert, im endgültigen Vorschlag der Kommission wurde allerdings gestrichen, dass dies mit einer klaren Ausrichtung auf den Binnenmarkt geschehen solle.4 In welche Richtung es bei der Arbeitszeit gehen soll, verrät nicht nur die Aufforderung an die Mitgliedstaaten, die „Verlängerung des Erwerbslebens aktiv zu fördern“5, sondern auch der an anderer Stelle auffindbare Satz: „Außerdem leisten die Europäer im Durchschnitt 10% weniger Arbeitsstunden als ihre amerikanischen oder japanischen Kollegen.“6 Auch die Gleichstellung der Geschlechter wird nur als notwendig erachtet, „um die Erwerbsbevölkerungs-Mitwirkung zu steigern…“.7

Wie sehr die Strategie auf den Markt und das „freie Unternehmertum“ zur Erreichung dieser Ziele setzt, wird im dritten Kapitel des Kommissionsvorschlags unter der Überschrift „Fehlende Schnittstellen und Hindernisse“ deutlich: Den größten Raum nimmt dort der Binnenmarkt ein, der „gestärkt, vertieft und erweitert“ werden soll, durch eine strengere Durchsetzung der Binnenmarktmaßnahmen und weniger Regulierung. Bei der dann folgenden Behandlung europäischer Finanzmittel drehen sich die konkreten Vorschläge ausschließlich um Kapital für Unternehmen und unternehmensnahe Infrastruktur, auch durch Public Private Partnership. Bei der „Entfaltung unserer außenpolitischen Instrumente“, dem letzten Punkt dieses Kapitels, wird Armutsbekämpfung zumindest angesprochen, den meisten Raum nehmen jedoch offene Märkte und Wettbewerbsfähigkeit ein.

Die Maßnahmen zur Überwindung der Wirtschaftskrise werden interessanterweise nicht in die Strategie integriert, sondern in einem eigenständigen Kapitel behandelt, auch dies wieder ein Zeichen dafür, wie wenig man bereit ist, die Mitschuld der Strategie von Lissabon an der Krise einzugestehen und auch dazu, mögliche Zielkonflikte auszudiskutieren. Zielkonflikte wird es in jedem Fall mit der im Mittelpunkt der Krisenüberwindung stehenden Haushaltskonsolidierung geben: War in den Leitinitiativen noch viel von Investitionen in Forschung und Entwicklung, Infrastruktur etc. die Rede, geht es nunmehr nur noch um „glaubwürdige Ausstiegsstrategien“ und „intelligente Konsolidierung“ (mit den aus der alten Strategie bekannten Forderungen nach „weitreichenden Strukturreformen insbesondere auf den Gebieten der Altersversorgung, des Gesundheitswesens, des sozialen Schutzes und der Bildungssysteme“). Bezüglich der Reform des Finanzsystems wird die Umsetzung der G20-Beschlüsse angemahnt. Fand sich im Entwurf der Kommission noch die vage Formulierung, Finanztransaktionen könnten möglicherweise als neue Steuerbasis betrachtet werden, soll nun nur noch ein „angemessener Beitrag des Finanzsektors“ geprüft werden. Interessanter klingt der Absatz zur Koordinierung innerhalb der Wirtschafts- und Währungsunion, wo immerhin die „destabilisierende Wirkung von Ungleichgewichten und Unterschieden in der Wettbewerbsfähigkeit“ innerhalb der Eurozone angesprochen wird, genauere Vorschläge zu einer stärkeren und engeren politischen Koordinierung werden jedoch nur angekündigt - und die derzeitigen Diskussionen um einen Europäischen Währungsfonds als kleinen Bruder des Internationalen lassen auch hier nichts Gutes erahnen.

Von einem Aufwachen aus den „schönen Träumen“ kann somit keine Rede sein, der ideologische Tiefschlaf geht weiter. Wie die Ziele ohne zusätzliche EU-Mittel und bei der angespannten Haushaltslage der überwiegenden Mehrheit der Mitgliedstaaten erreicht werden sollen, bleibt unbeantwortet - ein Blick auf die aktuelle Situation in Griechenland kann in diesem Zusammenhang nur als Albtraum bezeichnet werden, der keinesfalls als Blaupause für die anderen Mitgliedstaaten dienen darf.

Die Folgen böser Träume: Von der nationalen Umsetzung der Strategie(n)

Neben der Vielzahl der Ziele und Leitlinien wurde die mangelhafte Umsetzung der Lissabon-Strategie durch die Mitgliedstaaten als wesentlicher - wenngleich, wie oben dargestellt, überaus zweifelhafter - Grund für das Scheitern der Strategie angeführt. Dem soll nun dadurch begegnet werden, dass die Mitgliedstaaten die europäischen Ziele, die auf dem Frühjahrsgipfel im März festgelegt werden, in spezifische und differenzierte nationale Ziele übersetzen, „die der jeweiligen Situation und der Bereitschaft des Mitgliedstaates Rechnung tragen“.8 Diese nationalen Ziele sollen auf dem Juni-Gipfel vom Europäischen Rat abgesegnet werden, wie die Mitgliedstaaten ihre Ziele erreichen wollen, d.h. welche „Reformstrategie“ sie wählen, ist Thema des Herbstgipfels.

Diskutiert wurde auch, die Umsetzung der Strategie durch eine stärkere Verbindlichkeit zu erhöhen. Als die spanische Ratspräsidentschaft jedoch Anfang des Jahres den konkreten Vorschlag machte, bei einem Abweichen von den wirtschaftspolitischen Vorgaben der europäischen Ebene in Zukunft härtere Sanktionen zu verhängen, erntete sie einen (insbesondere deutschen) Proteststurm. Entsprechend schlug der ständige Ratspräsident van Rompuy auf dem Sondergipfel zur Wirtschaftskrise im Februar 2010 vor, in Zukunft stärker auf das Zuckerbrot als auf die Peitsche zu setzen: Staaten, die in Bildung oder andere gemeinsam festgelegte Ziele investieren, sollten dabei durch europäische Gelder oder Kredite unterstützt werden, z.B. im Rahmen der Strukturfonds oder durch die Europäische Investitionsbank.

Im Kommissionsvorschlag findet sich kaum mehr Verbindlichkeit: Neben den überarbeiteten Integrierten Leitlinien zur Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik wird es speziell an die einzelnen Mitgliedstaaten gerichtete Empfehlungen geben - auf Wunsch der Bundesregierung sollen diese allerdings hauptsächlich im Einvernehmen mit den betroffenen Staaten verabschiedet werden. Hält ein Mitgliedstaat sich dennoch nicht an die Empfehlung, kann die Kommission eine Verwarnung aussprechen, eine Neuerung des Vertrags von Lissabon (Art. 121, Abs. 4 AEUV). Da als weitere Eskalationsstufe nur - wie bereits im alten Vertrag - vorgesehen ist, dass der Rat Empfehlungen ausspricht und diese veröffentlicht, bleibt es dahingestellt, ob dies einen Mitgliedstaat tatsächlich beeindruckt. Die einzig wirkliche Neuerung ist der Vorschlag der Kommission, künftig die Berichterstattung und Bewertung der Strategie gleichzeitig zu der des Stabilitäts- und Wachstumspaktes vorzunehmen. Hiergegen hat sich die deutsche Bundesregierung aber bereits vehement ausgesprochen, weil sie eine „Politisierung“ und Verwässerung des Paktes befürchtet - die oben angesprochenen Zielkonflikte zwischen Haushaltskonsolidierung und Zukunftsinvestitionen bleiben scheinbar doch nicht ganz unbemerkt.

Die Strategie wird somit ihren unverbindlichen Charakter weitestgehend beibehalten, es bleibt auch künftig den Mitgliedstaaten überlassen, inwieweit sie ihre Politik auf die gemeinsamen Ziele ausrichten. Vor diesem Hintergrund könnte sich die Frage stellen, warum man sich dann überhaupt mit der neuen Strategie beschäftigen sollte. Die EU2020-Strategie ist wichtig, indem sie den diskursiven Rahmen setzt, in den die EU-Politiken des nächsten Jahrzehnts eingebettet werden. Und was vielleicht noch viel wichtiger ist: Die Mitgliedstaaten können diese neue „Geschichte“ dazu benutzen, unliebsame nationale Politiken zu rechtfertigen, indem sie einen „Zwang“ der europäischen Ebene konstruieren - was die Europäische Kommission in ihrer Bewertung der Strategie sogar als Vorteil herausstreicht: Die „Mitgliedstaaten nutzen die Empfehlungen, um innerstaatlichen Reformdruck aufzubauen“9 oder auch: „Some Member States used the Lisbon ‚brand‘ to lend a sense of legitimacy to difficult reforms.”10 Inwieweit dieser europäische Zwang tatsächlich besteht und vor allem inwieweit die Mitgliedstaaten selbst - über ihre Mitgliedschaft im Europäischen Rat und Ministerrat - an der Erstellung dieser Zwänge beteiligt sind, bleibt dabei meist im Dunklen. So wurde in Deutschland die Agenda 2010 auch mit den entsprechenden europäischen Vorgaben begründet: Franz Müntefering sagte, Deutschland habe mit der Agenda „weitreichende Fortschritte bei der nationalen Umsetzung der Lissabon-Strategie erzielt.“ Und auch die sozialen Einschnitte, die die schwarz-gelbe Regierung in den nächsten Monaten verkünden wird, werden sicherlich in den europäischen Zusammenhang gestellt. Hier kann die angedachte Verbindung von EU2020 und Defizitüberwachungsverfahren eine entsprechende Wirkung entfalten: Um das Haushaltsdefizit zurückzuführen sind Einschnitte im sozialen Bereich dann auch noch von der europäischen Ebene verordnet.

Die EU2020-Strategie ist somit ebenso nichtsnutzig und verheerend wie die Lissabon-Strategie und die Agenda 2010 in Deutschland. Das Programm der Neoliberalisierung, Privatisierung und sozialen Spaltung wird weiter vorangetrieben. Hiergegen muss breiter, europaweiter Widerstand organisiert werden, von linken Parteien über Gewerkschaften bis hin zu Sozial- und Umweltverbänden. Die Proteste gegen die Agenda 2010 in Deutschland haben zur Gründung der WASG und später der Partei DIE LINKE geführt, die Regierung Schröder wurde abgewählt. Dies macht Hoffnung für den Widerstand gegen die Strategie EU2020.

1 Europäische Kommission 2009: Konsultation über die künftige EU-Strategie bis 2020, Brüssel, S. 4
2 Europäische Kommission 2010: Europa 2020 - Eine Strategie für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum, Brüssel, S. 14
3 ebenda, S. 16
4 ebenda, S. 20
5 ebenda, S. 21
6 ebenda, S. 6
7 ebenda, S. 19
8 ebenda, S. 12
9 Europäische Kommission 2010: Bewertung der Lissabon-Strategie, Brüssel, S. 7
10 ebenda, S. 21

Sozialismus, April 2010