Zum Hauptinhalt springen

Vom Hunger in einer verkehrten Welt

Im Wortlaut von Niema Movassat,

Beitrag in der Reihe: Was ist systemrelevant?

Von Niema Movassat, MdB aus Nordrhein-Westfalen für die Fraktion DIE LINKE. im Bundestag und Mitglied im Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung



Ein Mensch kann nur wenige Wochen ohne Nahrung auskommen, bevor der Organismus zusammenbricht. Für den Körper ist Essen immer systemrelevant und Hunger zerstörerisch. Doch der permanente Hunger von einer Milliarde Menschen erschüttert unsere reiche Welt kaum noch – gestorben wird individuell, im Verborgenen und im besten Fall weit weg. Die Hungerstatistiken, die dennoch in regelmäßigen Abständen die Titelseiten großer Zeitungen und Internetportale füllen, beschämen uns vielleicht, doch die Ordnung gefährden sie nicht. Das Gegenteil scheint der Fall zu sein: Was individuell kaputt macht, ist als Massenphänomen systemstabilisierend. Wie ist das möglich?

Hunger suggeriert Knappheit und Knappheit verspricht hohe Preise. Die weltweiten Preissteigerungen für Grundnahrungsmittel wie Weizen, Mais, Reis und Soja sind auch eine Folge exzessiver Nahrungsmittelspekulation, die in diesem Umfang erst durch die Deregulierung der Finanzmärkte möglich wurde: keine Zugangsbeschränkungen für Spekulanten, keine Obergrenzen, wie viele virtuelle Kontrakte auf zukünftige Ernten ein einzelner Spekulant halten darf und kein Spekulationsverbot von Nahrungsmitteln für Rohstoffindexfonds. Stattdessen munteres Hochspekulieren der Preise auf Kosten der Ärmsten! Doch statt das unmoralische Geschäft mit dem Hunger zu beenden, heißt es, die Börsen seien für die Preisbildung auf den Agrarmärkten unverzichtbar. Systemrelevant sind offenbar die Finanzmärkte, nicht die Menschen.

Hunger – Argument für Agro-Gentechnik?

Das zweite Mantra der gegenwärtigen Politik lautet: Weil gehungert wird, müssen wir mehr produzieren, immer mehr. Die landwirtschaftliche Produktion müsse insgesamt, aber auch in Deutschland gesteigert werden, nicht zuletzt um die Welt zu versorgen. Der weltweite Hunger wird als letztes Argument aus der Tasche gezaubert, wenn die Agrarlobby noch den verstocktesten Skeptiker weichkocht und von der Notwendigkeit neuer Technologien, wie zum Beispiel der Agro-Gentechnik, zu überzeugen versucht. Oder sind Sie etwa gegen die Rettung der Menschheit?! Aber die Saat wird nicht aufgehen, wenn die Patentgebühren an Monsanto & Co. die Erträge auffressen.

Aber als Hintergrundfolie ist der Hunger unerlässlich. Nie wird die Frage diskutiert, wer zu welchen Bedingungen produziert. Investitionen in die Landwirtschaft als solche seien richtig. Doch der große Wettlauf um weltweites Ackerland, der vor rund zehn Jahren begonnen hat, zeigt, wie fatal sich Investitionen auswirken, die den Ärmsten den Zugang zu Land, Wäldern und Fischgründen entziehen. Mit Kauf- oder Pachtverträgen über 99 Jahre sichern sich Investoren große Landflächen, die sie entweder nach dem Modell der industriellen Landwirtschaft mit hohem Maschineneinsatz bewirtschaften oder als reine Spekulationsobjekte brach liegen lassen. Von diesen Investitionen profitieren vor allem die Agrarkonzerne und die Finanzwirtschaft. Ungefragt, rücksichtslos und gewalttätig werden Menschen von ihrem angestammten Land vertrieben, ungerechte Landbesitzverhältnisse zementiert und BäuerInnen zu SaisonarbeiterInnen degradiert.

Eigens dafür hat die Deutsche Bank Tochter DWS 2007 gleich mehrere Agrarinvestitionsfonds aufgelegt. Doch nicht um den Hunger zu bekämpfen, sind die Investoren angetreten, sondern um Profite einzufahren. Weil die Weltbevölkerung weiter wachsen und damit auch die Nachfrage nach Nahrungsmitteln steigen wird, weil – Krise hin oder her – gegessen werden muss immer, gelten Profite im Agrarsektor auch langfristig als gesichert.

Profite einfahren statt Hunger bekämpfen

Private Investitionen seien notwendig, so heißt es, um den Hunger zu bekämpfen. Auch die Bundesregierung hat dazu einen neuen Investitionsfonds für die afrikanische Landwirtschaft aufgelegt, der Millionenbeträge an Landwirtschafsbetriebe in Sambia, Ghana und anderswo verleiht. Verwaltet wird der Fonds ausgerechnet von der Deutschen Bank, die sich bereits mit Nahrungsmittelspekulation und Agrarinvestitionsfonds mächtig bereichert. Systemrelevant sind die Banken und die Agrarkonzerne, nicht die Menschen.

Für all jene, die sich nicht daran gewöhnen wollen, dass es allein Glück ist, ob jemand in Burkina Faso oder in Deutschland geboren wird, gibt es die Möglichkeit Geld an eine der unzähligen Hilfsorganisationen zu spenden. Eine ganze Hilfsindustrie hat sich das kurzfristige Mäulerstopfen zur Aufgabe gemacht. Eine der größten Geber des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen ist die US-Regierung. USAID dient jedoch in erster Linie zur Sicherung des Status quo in der US-amerikanischen Landwirtschaft. Denn die fehlgeleiteten Subventionen gewährleisten den Bauern nur deshalb ein sicheres Einkommen, weil sie Teile der Ernte an die US-Regierung verkaufen. Die Hilfslieferungen an die Hungernden sind ein Überschuss, der erwirtschaftet wird, weil Subventionen die landwirtschaftliche Produktion anheizen. Der weltweite Hunger liefert die vermeintliche Rechtfertigung dafür, dass der Status quo erhalten werden muss.

Das kapitalistische System ist nur deshalb funktionstüchtig, weil es ständig Lebensumstände kreiert, die rücksichtlos und unmoralisch menschliches Leiden nach sich ziehen. Der weltweite Hunger ist die hässlichste Fratze des gegenwärtigen Systems.

linksfraktion.de, 8. August 2012

Zur Übersichtsseite der Serie "Was ist systemrelevant"?