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Viele Worte, viele Lücken

Im Wortlaut,

Erstmals gibt die Regierung einen offiziellen Überblick über NS-Kontinuitäten und staatliche Vergangenheitsbewältigung. Die Linke sieht eine „moralische Katastrophe“

Von Tom Strohschneider

Normalerweise werden Große Anfragen von der Bundesregierung binnen eines halben Jahres beantwortet. Im Fall der 64 Fragen zum Umgang mit der NS-Vergangenheit, welche die Linksfraktion im Dezember 2010 eingereicht hatte, dauerte es deutlich länger. Zwei Mal musste das Innenministerium um Verlängerung der Frist zur Beantwortung ersuchen – nun liegt, nach über einem Jahr, der mehr als 100-seitige Bericht vor.

Wenn man so will, handelt es sich um das erste regierungsoffizielle Kompendium zur staatlichen Aufarbeitung des Nationalsozialismus und zum Ausmaß der personellen Kontinuitäten. Es sind weniger neue Details oder bisher unbekannte Verstrickungen, welche den Wert der Antwort ausmachen. Es ist vor allem die das weite Feld der NS-Aufarbeitung umfassende Klammer, der Überblick, den man hier erhält. Und es sind die Antworten, die nicht gegeben werden – etwa über die NS-Belastung der Bundestagsabgeordneten der fünfziger und sechziger Jahre.

In den letzten Jahren haben die Bemühungen zugenommen, Licht ins Dunkel des Umgangs mit früheren Nazis in den Institutionen der frühen Bundesrepublik zu bekommen. Beispielhaft sind die wissenschaftlichen Arbeiten über die Anfangsjahre von Ministerien, Polizeibehörden und Geheimdiensten zu nennen. Die Forschungsarbeit „Das Amt“, in der es um deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik geht, hat auch jenseits der historiografischen Szene für viele Debatten gesorgt.

In ihrer Antwort auf die Große Anfrage der Linken bringt die Bundesregierung diesen Kenntnisstand zusammen. Und doch bleiben „viele inhaltliche Lücken“, wie es der Linkenpolitiker Jan Korte formuliert. Lücken, die in der Antwort „durch viele Worte überdeckt“ worden seien, wobei es oft gar nicht in der Verantwortung der Regierung allein liegt, dass über eine Reihe von Fragen heute immer noch keine befriedigenden Erkenntnisse vorliegen.

Eine Erfolgsgeschichte?

Dass trotz zweimaliger Verlängerung der Antwortfrist das zuständige Innenministerium nicht selbst aufholen kann, was in 60 Jahren von der Forschung und den Institutionen der Aufarbeitung versäumt wurde, liegt auf der Hand. Andererseits kritisiert Korte, dass die Bundesregierung dennoch bemüht ist, ihre Selbsteinschätzung „zu unterstreichen, die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit sei alles in allem eine Erfolgsgeschichte gewesen und könne als weltweites Vorbild für den Umgang mit staatlichen Verbrechen angesehen werden“.

Dass ganze drei (!) Mitarbeiter im Auswärtigen Amt wegen ihrer NS-Belastung entlassen wurden, erzählt eine andere Aufarbeitungs-Geschichte. Massiv waren auch „131er“, also so genannte Minderbelastete, ab Anfang der fünfziger Jahre wieder verbeamtet worden – in einzelnen Ministerien machten sie sogar das Gros der Besetzungen aus. Die unübersehbare Präsenz ehemaliger nationalsozialistischer Funktionseliten in den Ministerien und Sicherheitsbehörden, sagt Korte mit Blick auf die Antwort der Bundesregierung, könne man im Rückblick „nur als eine beispiellose moralische Katastrophe bezeichnen“.

Das gilt in gewisser Weise auch angesichts der Äußerungen zu Fragen der Entschädigung an NS-Opfer, bei der die Bundesregierung „keine ungeklärten bzw. juristisch umstrittenen Fragen“ sieht, obwohl noch immer Gruppen „vergessen“ sind oder die Auszahlung der oft kleinen Beträge die Hilfsbedürftigkeit der wenigen noch lebenden Betroffenen wirklich lindert. Angesichts dessen klingt eine selbstgenügsame Bilanz der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit politisch fatal. Nicht zuletzt erscheint es wie der Versuch, sich nachträglich die gelungenen Bemühungen anzueignen, die vor allem der Initiative unermüdlicher Einzelner zu verdanken sind – nicht aber in jedem Fall der „nachhaltigen Unterstützung“ der Aufarbeitung durch die Bundesregierungen.

„Immer nur dort, wo es gesellschaftlichen Druck gibt“, sagt Linkenpolitiker Korte, „passiert überhaupt etwas in Sachen NS-Aufarbeitung.“

Wochenzeitung der Freitag, 29. Dezember 2011