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Viel Sehnsucht, viel Angst

Im Wortlaut,

Warum selbst die Wähler von FDP und Union mehr Gleichheit, mehr Staat und mehr Sicherheit wünschen.

Ein paar verblüffende Momentaufnahmen: 68 Prozent der FDP-Wähler befürworten die Einführung eines Mindestlohns. Zwei Drittel der Unionsanhänger wünschen sich, dass der Staat mehr für die Betreuung von Kindern unter drei Jahren tun soll. Die überwältigende Mehrheit der SPD-Anhänger - 82 Prozent - möchte die Rente mit 67 am liebsten wieder abgeschafft sehen.

Unter Unionswählern sind es fast genauso viele, nämlich 80 Prozent. Selbst bei den Liberalen wollen 71 Prozent lieber schon mit 65 in Rente gehen. 71 Prozent der Unionswähler sagen, Unternehmen wie Bahn, Telekom und Energieversorger sollten lieber in Staats- als in Privatbesitz sein. Auch eine Mehrheit der FDP-Wähler, immerhin 57 Prozent, ist dieser Meinung. Das sind Werte, die man bei der Linkspartei vermutet hätte.

Kann es sein, dass dieses Land unmerklich nach links gerückt ist, dass es heute schon viel weiter links steht, als es wahrhaben will? Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Emnid im Auftrag der ZEIT legt diesen Schluss nahe: Teils satte Mehrheiten in allen politischen Lagern sprechen sich für mehr Staatsintervention und gegen weitere Privatisierungen, gegen Atomkraft, gegen den Afghanistaneinsatz und für eine Rücknahme von Reformzumutungen aus. Der Begriff »linke Mehrheit« bekommt in diesem Licht eine neue Bedeutung.

Darunter ist nicht nur die rechnerische Mehrheit einer rot-rot-grünen Parlamentskonstellation zu verstehen, die wegen selbst verordneter sozialdemokratischer Kontaktsperre einstweilen folgenlos bleibt. In vielen Fragen gibt es linke Mehrheiten - und das in allen Parteien.
72 Prozent aller Befragten finden, die Regierung tue zu wenig für die soziale Gerechtigkeit. Fast alle Wähler der Linken (97 Prozent) sind dieser Meinung, was wenig überrascht. Aber: Auch 60 Prozent der Unions- und 76 Prozent der SPD-Anhänger denken so, und zwar unabhängig von ihrer sozialen Lage. Was die gefühlte Gerechtigkeitslücke der Regierungspolitik angeht, gibt es satte Zweidrittelmehrheiten vom Prekariat bis zu den Besserverdienenden. Die FDP, die sich in schriller Kalter-Krieg-Rhetorik als letztes Bollwerk gegen den Linksruck empfiehlt, ist in Wahrheit mittendrin. Links ist überall?
Aber was heißt hier überhaupt links? Die Linke hatte in Deutschland immer ein Janusgesicht: befreiend, emanzipatorisch und antiautoritär auf der einen Seite, protektionistisch, staatsgläubig, bewahrend auf der anderen. Und nun ein Linksruck in Zeiten einer Großen Koalition. Kennen wir das nicht aus der Geschichte der Bundesrepublik? Doch die Analogie täuscht: Heute haben wir es nicht mit einer Emanzipa-tionslinken wie zu APO-Zeiten zu tun. Das Links-Emanzipatorische ist zwar tief in die bundesrepublikanische Gesellschaft eingesickert, was sich vor allem im liberalisierten Privatleben zeigt. Das Thema Krippenbetreuung eignet sich nicht mehr für Kulturkämpfe.

Die Förderung der Frauenberufstätigkeit ist von einem feministischen Projekt zu einem Konsensthema geworden ist. »Das Private ist das Politische« war eine Kampfformel der Linken. Heute lebt ein CSU-Minister wie Horst Seehofer danach, wenn auch nicht ganz freiwillig.

Der neue Linksruck hat auffällig wenig mit Aufbruchsgeist und viel mit Verunsicherung zu tun. Viele bewahrende, linkskonservative Motive mischen sich darin: Sehnsucht nach dem alten Sozialstaat mit Rundum-sorglos-Paket, die Versuchung des weltpolitischen Rückzugs aus einer komplexen und feindlichen Welt, Realitätsverweigerung gegenüber der demografischen Herausforderung. Böse Zungen sagen, was als links daherkomme, sei gar nicht links, sondern sentimentaler Sozialkonservatismus, Sehnsucht nach der bloß vermeintlich heilen Welt der Bundesrepublik der Siebziger. Aber Verwünschen und Entlarven hilft nichts. Einer Protestpartei wie der Linken kann gar nichts Besseres passieren als wütendes Geschimpfe des Establishments.

Im Übrigen fallen zentrale Forderungen der Linkspartei auch außerhalb ihrer Klientel auf fruchtbaren Boden. 68 Prozent aller Befragten befürworten den Mindestlohn - überraschenderweise Akademiker mehr als gering Gebildete und Besserverdiener mehr als die unteren Lohngruppen. Drei Viertel der Sozialdemokraten und eine knappe Mehrheit der Unionsanhänger sprechen sich dafür aus, bei den Grünen sind es sogar 83 Prozent.

Die Reformanhänger sind auf dem Weg zu einer Minderheit.
Noch deutlicher ist die Lage bei der Rente. Hier sprechen sich 82 Prozent für eine Rückkehr zum alten Modell der Rente mit 65 aus. Die Anhänger der beiden Volksparteien liegen dabei ziemlich gleichauf. Bei Grünen und FDP ist die Zustimmung zwar etwas geringer. Aber auch hier sind die Reformanhänger auf dem
Nur knapp mehr als ein Drittel der Deutschen (34 Prozent) ist der Meinung, der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan sei »eher richtig«.

Mit höherer Bildung steigt die Zustimmung zum Auslandseinsatz zwar merklich an - aber in keiner einzigen untersuchten Gruppe lässt sich noch eine Mehrheit für den Auslandseinsatz ausmachen. Die meiste Zustimmung erhält der Einsatz noch bei den Grünen - mehr als bei der Union. Die Grünen haben über Afghanistan einen internen Streit bis an den Rand des Zerwürfnisses ausgetragen. Ihr Milieu identifiziert sich vielleicht auch deshalb mehr mit dem Konflikt als alle anderen. Die Grünen als letzter Rückhalt der Armee im Ausland, das ist eine ziemlich vertrackte Ironie der Geschichte.

Auch andere Milieus schauen aus dem Spiegel der ZEIT-Umfrage anders heraus, als sie hinein-schauen: Was die Rolle des Staates in der frühkindlichen Betreuung betrifft, liegt das vermeintlich bürgerliche Lager voll im linken Mainstream. Zwei Drittel der Unionswähler sehen den Staat in der Pflicht. Und sogar 82 Prozent der FDP-Wähler - mehr als bei der Linkspartei! - wollen die Betreuung von Kleinkindern unter drei Jahren ausgebaut sehen. An der Sozialisation im krippenreichen Osten kann diese Zustimmung nicht liegen, dafür ist sie zu groß. Von einer bürgerlichen Skepsis gegenüber Kitas und Krippen, wie sie mancher Unionspolitiker beschwört, kann keine Rede sein, noch weniger von einer Sehnsucht nach der klassischen Rollenaufteilung mit Mutti daheim am Herd. Die Unionsdebatte um ein Betreuungsgeld (»Herdprämie«) als Ausgleich für die liberale Familienpolitik Ursula von der Leyens wirkt im Licht dieser Zahlen merkwürdig irreal. 74 Prozent der Bürger sind auf ihrem Kurs, was Frau von der Leyen freuen dürfte. Noch ein interessantes Detail: Es gibt in dieser Frage kaum Unterschiede zwischen Männern und Frauen.

Beim Thema Kernenergie hat die alte bundesrepublikanische Skepsis weiter die Oberhand. Kein anderes europäisches Land kennt wie Deutschland eine linke und eine rechte Weise der Stromerzeugung. Die linke Antihegemonie ist bei diesem Thema weiter stabil: 54 Prozent, vor allem Anhänger von SPD und Grünen, wollen am Ausstieg festhalten. Bei Union und FDP gibt es nach wie vor Mehrheiten - allerdings sehr knappe - für den Wiedereinstieg. Sekundiert werden sie hier interessanterweise von der Linkspartei, die ebenfalls eine knappe Marge pro Kernkraft aufweist und die damit in krassem Kontrast zum möglichen künftigen Bündnispartner in rot-rot-grünen Konstellationen steht, denn bei den Grünen stehen 86 Prozent eisern wie eh und je gegen Atomkraft. Für kommende schwarz-grüne Verständigungsprozesse gibt es in dieser Frage aber durchaus Potenzial beim möglichen Partner: Auch 45 Prozent der Unionswähler wollen beim Ausstieg bleiben.

Bei keinem Thema wird die Abkehr vom sogenannten »Neoliberalismus« so deutlich wie bei der Privatisierung von Staatsunternehmen. Die Anhänger der Volksparteien lehnen dies noch heftiger ab als der Rest des politischen Spektrums. Bei den Wählern der Linkspartei ist der Widerwille gegen die Deregulierung von Infrastrukturunternehmen nur geringfügig stärker als bei Union und SPD: 72 Prozent der SPD-Wähler, 71 Prozent der Unionswähler und 76 Prozent der Linke-Wähler sind sich einig darin, dass Bahn, Post und Gaswerk beim Staat besser aufgehoben sind als in privaten Händen. Und weil auch bei der FDP eine Mehrheit gegen Privatisierungen ist, bleiben die Grünen mit knapper staatsskeptischer Mehrheit als die einzig wahren Liberalen übrig.

Das sind bemerkenswerte Zahlen, die für die Rückkehr des Staates in der politischen Debatte sprechen. Die Zeiten, in denen man dem Staat nichts zutraute und unterstellte, dass private Akteure fast alles besser oder günstiger bereitstellen könnten, sind gründlich vorbei. Die Staatlichkeit ist gerade durch die fortschreitende Globalisierung wieder zum Adressaten für Schutzwünsche und Sicherheitserwartungen geworden.
Dass eine Mehrheit die Rolle der Gewerkschaften als »eher zu klein« bewertet, passt dazu. Bei den Sozialdemokraten sieht es die Hälfte so, bei der Linken gut zwei Drittel, bei den Grünen sind es sogar 71 Prozent. Aber auch bei der Union ist ein Drittel dieser Meinung, und unter FDP-Anhängern stellt sich immerhin ein erklärungsbedürftiges störrisches Viertel gegen Guido Westerwelles Antigewerkschaftsrhetorik. Offenbar werden die Gewerkschaften bis weit ins bürgerliche Lager nicht mehr nur als die Bremser gesehen, die verhindern, dass Deutschland für die Globalisierung fit wird. Viele Bürger fürchten, dass der Aufschwung nicht in ihren Taschen ankommt. Man sieht die Gewerkschaften als Bollwerk gegen den verschärften Druck auf Löhne und Gehälter, den die globalisierte Wirtschaft mit sich bringt.
Deutschland hat einen Linksdrall: 86 Prozent der Deutschen ordnen sich in der Mitte und links davon ein. Als rechts wollen nur 11 Prozent gelten. Bei den Unionsanhängern hat die bekennende Linke (25 Prozent) die bekennende Rechte (22 Prozent) überflügelt. Ein interessantes Detail für Gender-Forscher: Frauen neigen noch etwas mehr nach links als Männer.

Die Linkspartei als Problem nur für die SPD? Das ist zu kurz gedacht.

Die Umfrage ist die Momentaufnahme einer zutiefst verunsicherten Gesellschaft. Der Linksruck, der sich in ihr abzeichnet, hat einen emotionalen Glutkern: das Gefühl der Ungerechtigkeit. Das ist nicht mit Neid und Gleichmacherei zu verwechseln, mögen sie auch eine Rolle spielen. Die Menschen, hat John Rawls, der große linke Sozialphilosoph des vergangenen Jahrhunderts, erklärt, sind nicht per se gegen Ungleichheit. Sie akzeptieren Ungleichheit, wenn sie an Leistung gebunden ist und am Ende alle von ihr profitieren, weil das Land wettbewerbsfähiger wird und prosperiert. Der Glaube an diese Bindung ist durch alle politischen Milieus hinweg erschüttert - das ist ein unabweisbares Ergebnis dieser Umfrage. Wenn das Vertrauen in die Chancengerechtigkeit einer Gesellschaft verloren geht, kann das zu einem Problem für die Demokratie werden.
Was soll die Politik mit diesem Wissen anfangen? Ist das linke Potenzial für die kommenden Wahlen ausschöpfbar? Oder geben die Leute den Demoskopen allerlei Wünschbarkeiten zu Protokoll, von denen sie eigentlich wissen, dass niemand sie ihnen (zurück)geben kann? Offenbar sind Wahlentscheidungen am Ende komplexer, als das Stimmungsbild von Deutschland im Linksruck suggeriert. Die klammheimliche Staatsfreundlichkeit der FDP-Wähler spricht dafür. Wer weiß: Vielleicht durchschaut das Wahlvolk in der Kabine die Unerfüllbarkeit seiner Wünsche? Vielleicht ist, was sich im Stimmungsbild zeigt, nur eine Gefühlslinke, deren Vorstellungen nie politisch umgesetzt werden?
Doch es wäre fahrlässig für die Politik, darauf zu wetten. Die Linke wird naheliegenderweise vor allem als Problem der SPD wahrgenommen, weil sie deren Themen besetzt. Das ist zu kurz gedacht, wie unsere Umfrage belegt. Die Linke repräsentiert Einstellungen und Meinungen, die bis tief ins bürgerliche Milieu streuen. Eine »wichtige Rolle für die Linke in Deutschland« wünschen 29 Prozent der Sozialdemokraten, aber auch 13 Prozent der Unionswähler und 15 Prozent der Liberalen. Bei den Grünen ist dieser Wunsch mit 42 Prozent am heißesten.
Es stimmt wahrscheinlich immer noch, dass Wahlen in Deutschland in der Mitte gewonnen werden. Aber diese Mitte ist ein gutes Stück nach links verrutscht
Von Jörg Lau
DIE ZEIT Nr. 33 vom 9. August 2007