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»Unsolidarisch und krisenverschärfend«

Im Wortlaut von Diether Dehm,

Beitrag zur Serie "Was ist systemrelevant?"

Von Diether Dehm, europapolitischer Sprecher der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag




Gegenwärtig tagt in Brüssel der Europäische Rat, das sind die 27 Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedsländer. Ziel des Sondergipfels ist es, sich über die Finanzplanung für die kommenden sieben Jahre als Grundlage für den jährlichen EU-Haushalt zu einigen. Im November vergangenen Jahres war ein erster Sondergipfel dazu gescheitert: Entgegen aller Lippenbekenntnisse diverser Regierungschefs zu Europa und der europäischen Idee hörten beim Geld und in Zeiten der Krise Freundschaft und Solidarität offensichtlich auf.

Die EU-Finanzen, planerisch niedergelegt im mehrjährigen Finanzrahmen (MFR), werden vorrangig aus Beiträgen der Mitgliedstaaten aufgebracht. Mit ihnen werden in der EU Maßnahmen finanziert, die Gemeinschaftsaufgabe sind und die am effektivsten auf europäischer Ebene geplant und umgesetzt werden können. Im Vertrag über die Arbeitsweise der EU heißt es in Artikel 174 grundlegend: "Die Union entwickelt und verfolgt weiterhin ihre Politik zur Stärkung ihres wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts, um eine harmonische Entwicklung der Union als Ganzes zu fördern. Die Union setzt sich insbesondere zum Ziel, die Unterschiede im Entwicklungsstand der verschiedenen Regionen und den Rückstand der am stärksten benachteiligten Gebiete zu verringern."

EU-Ziel: Ungleiche wirtschaftliche Entwicklung ausgleichen

Im MFR werden Finanzen für das Erreichen politischer Ziele in verschiedenen Rubriken abgebildet, wobei die meisten Mittel für die Kohäsionspolitik und die Agrarpolitik anfallen. Ähnlich der Vorgabe des deutschen Grundgesetzes, das in Artikel 72 die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet oder die Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse als Ziele formuliert, soll durch die Kohäsionspolitik der EU zwischen reicheren und ärmeren Regionen in der EU eine Umverteilung stattfinden, um die Folgewirkungen einer ungleichen wirtschaftlichen Entwicklung auszugleichen.

Gerade angesichts der aktuellen krisenhaften Situation der EU kann vor allem die Kohäsionspolitik nicht lediglich als mildtätiger Akt der reicheren Länder verstanden werden. Es handelt sich bei der Bereitstellung entsprechender Finanzmittel vielmehr um Maßnahmen von erheblicher Systemrelevanz: Ein zu großes Wohlstandsgefälle innerhalb der EU bedeutet eben, dass verarmte Regionen mit geringer Wirtschaftskraft kaum oder keine Handelspartner sein können. Gerade Deutschland, das gut 60 Prozent seiner Exporte mit den europäischen Ländern abwickelt, hat ein starkes Interesse daran, dass sich die Nachbarn auch in Zukunft deutsche Produkte leisten können.

Im Europäischen Rat stehen sich aber zwei Gruppen von Ländern mit sehr gegensätzlichen Zielen gegenüber. Da sind auf der einen Seite die "friends of better spending", die Freunde der besseren Ausgabenpolitik. Hinter diesem Euphemismus versammeln sich neben Deutschland auch Österreich, Finnland, Tschechien, die Niederlande und Schweden. Ihr erklärtes Ziel ist es, die Mittel für den EU-Haushalt auf ein Prozent des Bruttonationaleinkommens (BNE) zu kürzen. Auf der anderen Seite stehen die "friends of cohesion", die Freunde der Kohäsionspolitik, die sich vehement gegen Kürzungen im EU-Haushalt, und hier vor allem im Bereich der Kohäsionspolitik, aussprechen.

Soziale Dimension mit keiner Silbe bedacht

Ein weiter entwickelter MFR, insbesondere eine ausgeweitete Kohäsionspolitik, wären ein sehr gutes und sehr geeignetes Mittel, um wirksame Antikrisenpolitik zu machen – erst recht jetzt, da die EU in der Rezession steckt und die Jugendarbeitslosigkeit in 12 der 27 Mitgliedstaaten bei über 25 Prozent liegt. Vor diesem Hintergrund sind die Kürzungspläne der "better spender" nicht nur grob unsolidarisch, sondern sie würden krisenverschärfend wirken, zumal über 90 Prozent der MFR-Mittel wieder in die Mitgliedstaaten zurückfließen. Diese Position vertritt auch der Deutsche Gewerkschaftsbund, der unter dem (etwas verunglückten) Titel "Ein Marshallplan für Europa" Vorschläge für eine abgestimmten Investitions-, Konjunktur- und Zukunftspolitik unterbreitet hat.

Die Reformbemühungen auf EU-Ebene laufen aber stattdessen in Richtung auf die Etablierung einer "echten Wirtschafts- und Währungsunion", "die eine starke und stabile Architektur in finanzieller, steuerlicher, wirtschaftlicher und politischer Hinsicht" gewährleisten soll. Dafür sollen alle wirtschafts- und fiskalpolitischen Entscheidungen der Mitgliedstaaten auf europäischer Ebene koordiniert, gebilligt und überwacht werden. Abgesehen davon, dass Fragen der demokratischen Legitimation dieser Übertragung von Befugnissen auf eine europäische Wirtschaftsregierung äußerst unterbelichtet bleiben, fällt auf, dass die soziale Dimension in der Zielstellung mit nicht einer Silbe bedacht wird. Und was, wenn nicht ein sozial gerechtes Europa, könnte systemrelevant im Interesse der Menschen in Deutschland und Europa sein?


linksfraktion.de, 7. Februar 2013

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