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Teure Streiks, billige Argumente

Im Wortlaut von Wolfgang Neskovic,

Die Gerichte dürfen den Arbeitskampf der Lokführer nicht verbieten. Laut Bundesarbeitsgericht ist es einer Gewerkschaft selbst überlassen, welche Kampfmittel sie einsetzt.

Die Logik der Streikgegner ist unfreiwillig komisch. In ihrem inneren Aufbau erinnert sie an ein Bonmot von Woody Allen: „Ich habe keine Angst vorm Sterben - ich will nur nicht dabei sein, wenn’s passiert.“ So scheinen die Streikkritiker zu sagen: „Streik, na gut. Aber nur wenn er keinen wirtschaftlichen Druck ausübt!“

Anders als mit diesem Sinn für Albernheiten lässt es sich kaum erklären, warum Deutschland das einzige Land der Welt ist, das sich drei mal täglich den ökonomischen Schaden von Streiks ausrechnet, um damit das Streiken an sich für sozial unverträglich zu erklären.

So war dieser Tage mal wieder zu lesen: „Der Streik der Lokführergewerkschaft verursacht nach Berechnung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) täglich rund 25 Millionen Euro Schaden - unter Berücksichtigung der erhöhten Gewinne von Taxi- oder Mietwagenfirmen.“ (…) Und Frau Kemfert vom DIW fügt hinzu: „Das lässt sich für wenige Tage noch verkraften - über einen längeren Zeitraum schlägt sich das aber nieder in der Kaufkraft.“ Nach ihrer Ansicht ist ein Streik ab zwei Wochen Dauer volkswirtschaftlich nicht mehr vertretbar.

In der politischen Diskussion mag die Frage der Kosten eines Streiks ein berücksichtigenswerter Aspekt der Auseinandersetzung sein, in der juristischen ist er hingegen verfehlt. Es liegt im Wesen eines Streiks, dass er wirtschaftliche Auswirkungen für die Arbeitgeber und mittelbar auch für Dritte hat. Durch Zufügung wirtschaftlicher Nachteile soll ja gerade der notwendige Druck entwickelt werden, um das Streikziel zu erreichen. Dabei ist es grundsätzlich nicht Sache der Arbeitsgerichte, die Gewerkschaften bei der Auswahl der Streikmittel zu reglementieren, indem sie etwa der GdL nur den Streik im Personennahverkehr erlauben, ihn hingegen im Güter- und Fernverkehr untersagen. Dies läuft auf eine verfassungswidrige „Zensur“ hinaus.

Durch eine solche Beschränkung wird gleichzeitig das Kräftegleichgewicht der Tarifvertragsparteien einseitig zu Lasten der Gewerkschaften verschoben und somit das Prinzip der Kampfparität verletzt. Hieran ändern auch die Erwägungen des Arbeitsgerichts Chemnitz zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nichts. Zwar ist die Verhältnismäßigkeit in der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts der zentrale Maßstab zur Bewertung von Arbeitskampfmaßnahmen. Es ist aber zu berücksichtigen, dass nach dieser Rechtsprechung eine Arbeitskampfmaßnahme nur dann rechtswidrig ist, wenn sie bezogen auf das Kampfziel offensichtlich ungeeignet, offensichtlich nicht erforderlich oder unangemessen ist. Dabei ist hervorzuheben, dass aufgrund des Merkmals der Offensichtlichkeit nur solche Streikmittel unverhältnismäßig sind, bei denen es jedermann auf den ersten Blick einleuchtet, dass sie in keinem angemessenen Verhältnis zum Kampfziel und den damit verbundenen Auswirkungen stehen.

Außerdem hat das Bundesarbeitsgericht entschieden, dass es zu der durch die Verfassung geschützten Betätigungsfreiheit von Koalitionen gehört, vorrangig selbst darüber zu befinden, ob eine Arbeitskampfmaßnahme geeignet und erforderlich ist, Druck auf den sozialen Gegenspieler auszuüben. Demnach ist es grundsätzlich Sache der Streik führenden Gewerkschaft zu entscheiden, welches Kampfmittel eingesetzt wird und wem gegenüber dies geschieht. An diese Grundsätze hat sich das Arbeitsgericht Chemnitz erkennbar nicht gehalten, indem es den Streik nur im Nahverkehr erlaubt hat.

Die vergangenen Wochen haben gezeigt, dass dieses Kampfmittel erkennbar ungeeignet ist, ausreichend Druck auf Herrn Mehdorn auszuüben. Die Stimmung in der Bevölkerung wendet sich gegen die GdL und die Bahn kann die entstandenen Einnahmeausfälle offenbar locker verkraften. Erst eine Bestreikung des Fern- und insbesondere des Güterverkehrs kann hier zu einem Umdenken führen. Den Gewerkschaften bei dieser Sachlage dieses wirksame Kampfmittel zu rauben, stellt eine verfassungswidrige Einschränkung gewerkschaftlicher Rechte dar. Die Entscheidung des Arbeitsgerichts Chemnitz kann daher keinen rechtlichen Bestand haben.

Von Wolfgang Neskovic

Der Tagesspiegel, 1. November 2007