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»Stress und Burnout etablieren sich in der deutschen Arbeitswelt«

Nachricht,

Auswertung der Antwort der Bundesregierung vom 5. August 2014 auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE "Psychische Belastungen in der Arbeitswelt" (Drs. 18/2180)

 

Zusammenfassung

Psychische Erkrankungen haben in den vergangenen Jahren drastisch zugenommen und verharren nun auf hohem Niveau. Dies zeigt sich sowohl an der Anzahl von Arbeitsunfähigkeitstagen aufgrund psychischer Erkrankungen als auch an einem deutlichen Anstieg von Rentenzugängen in eine Erwerbsminderungsrente aus diesem Grund. So hat die Anzahl der Rentenzugänge in eine Erwerbsminderungsrente aufgrund psychischer Erkrankungen bei Frauen und Männern von 1993 bis 2012 um 86 Prozent zugenommen, bei gleichzeitigem Rückgang der Rentenzugänge insgesamt um 28 Prozent in diesem Zeitraum. Hier sticht besonders hervor, dass Frauen überdurchschnittlich häufig betroffen sind im Vergleich zu Männern. So ist es auch nicht verwunderlich, dass die beiden Wirtschaftszweige, die weit über dem Durchschnitt bei den psychischen Belastungen liegen, in weiblich geprägten Branchen zu finden sind. Das ergibt sich aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag.

"Es braucht in Deutschland eine Anti-Stress-Verordnung dringender denn je. In einer humanen Arbeitswelt müssen die Arbeitsbedingungen endlich wieder zum Schwerpunktthema gemacht werden", sagt Jutta Krellmann, gewerkschaftspolitische Sprecherin und Sprecherin für Arbeits- und Mitbestimmungspolitik der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag.

"Dass die Bundesregierung trotz der dramatischen Zahlen vage bleibt, vertröstet und seit Jahren auf präventives Handeln verzichtet, ist verantwortungslos. Appelle und Verweise auf das Arbeitsschutzgesetz reichen schon lange nicht mehr aus und gehen zu Lasten der Betroffenen. Es fehlt in diesem Bereich an verbindlichen und handhabbaren Vorschriften. Hier ist die Bundesregierung gefordert und hat zusammen mit den Arbeitgebern Verantwortung dafür zu übernehmen, dass psychische Belastungen identifiziert und die Beschäftigten frühzeitig davor geschützt werden. Ich fordere die Bundesregierung auf, endlich zu handeln, bevor es zu spät ist", so Jutta Krellmann weiter.

Zentrale Ergebnisse im Einzelnen:

  • Im Jahr 2012 betrug die Zahl der Arbeitsunfähigkeitstage (AU-Tage) aufgrund von psychischen und Verhaltensstörungen in Deutschland ca. 61,5 Mio. (siehe Tabelle 2 und 3, Seite 2). Im Vergleich zum Vorjahr ist dies zwar ein Rückgang um 3,3 %. Dieser Rückgang kommt aber nur zustande, da die Anzahl im Jahr 2011 von 53,5 Mio. auf ca. 63,7 Mio. AU-Tage noch einmal rapide um weitere 19 % angestiegen ist.1 Insgesamt ist die Anzahl der AU-Tage aufgrund von psychischen und Verhaltensstörungen dramatisch hoch: So lag die Anzahl 2001 noch bei 33,6 Mio. AU-Tagen und hat sich somit zum Jahr 2012 mit einer Steigerung von 83 % nahezu verdoppelt.2 Der prozentuale Anteil an den gesamten AU-Tagen lag 2012 bei 15,5 % (Siehe Tabelle 4, Seite 3). Im Jahr 2001 betrug der prozentuale Anteil noch 6,6 %, dieser hat sich somit bis 2012 nahezu verdreifacht.3
  • Die Zahl der Rentenzugänge in eine Erwerbsminderungsrente aufgrund psychischer Erkrankung ist bei Männern von 19.877 im Jahr 1993 auf 31.918 im Jahr 2013 angestiegen. Das ist eine Erhöhung um 61 %. Bei Frauen ist die Zahl der Rentenzugänge von 19.875 im Jahr 1993 auf 42.141 im Jahr 2013 angestiegen. Das entspricht einem Anstieg um 112 %. Die Zahl hat sich also mehr als verdoppelt. Parallel ist im gleichen Zeitraum ein Rückgang der Rentenzugänge insgesamt um 28 % zu beobachten (siehe Antwort auf Frage 4 und Tabellen 1 und 2, Seite 19-20).
  • Im Berufsgruppenvergleich zählen zu den am meisten aus den Anforderungen der Arbeitsaufgabe und Arbeitsorganisation psychisch belasteten Berufen, die über dem Durchschnitt liegen oder wo die Häufigkeit des Merkmals einen Spitzenplatz einnimmt, Gesundheitsberufe, Ingenieure, Chemiker, Physiker, Mathematiker, sonstige Fertigungsberufe, Bergleute, Mineralgewinner, Bauberufe u.a. (siehe Antwort auf Frage 6, Seite 14-15)
  • Zu den am meisten aus den Anforderungen der Arbeitsaufgabe und Arbeitsorganisation psychisch belasteten Wirtschaftszweigen, die über dem Durchschnitt liegen, zählen: Verkehr und Lagerei, Information und Kommunikation, Verarbeitendes Gewerbe u. das Baugewerbe. Überdurchschnittlich häufige Belastungen sind lange und überlange Arbeitszeit, Schichtarbeit, Wochenendarbeit, Rufbereitschaftsdienst und Pausenausfall; sich daraus ergebene gesundheitliche Beschwerden sind Muskel-Skelett-Beschwerden, psychovegetative Beschwerden (s. Tab. 9, S. 8-9).
  • Zu den am meisten aus den Anforderungen der Arbeitsaufgabe und Arbeitsorganisation psychisch belasteten Wirtschaftszweigen, wo die Häufigkeit des Merkmals einen Spitzenplatz einnimmt, zählen das Gesundheits- und Sozialwesen und Erziehung und Wissenschaft. Überdurchschnittlich häufige Belastungen sind Schichtarbeit, Wochenendarbeit, Rufbereitschaft/ Bereitschaftsdienst, Pausenausfall, Sonn- und Feiertagsarbeit; sich daraus ergebene gesundheitliche Beschwerden sind  Muskel-Skelett-Beschwerden, psychovegetative Beschwerden, körperliche und emotionale Erschöpfung. Zudem wird in diesen beiden Branchen am meisten von mengenmäßiger Überforderung berichtet (siehe Tabelle 9, Seite 8-9).
  • Die kürzlich erfolgte Konkretisierung hinsichtlich der Berücksichtigung von psychischen Belastungen in Gefährdungsbeurteilungen hat laut der Bundesregierung das Bewusstsein der Arbeitgeber geschärft und einen Beitrag zu mehr Rechtssicherheit geleistet. Die im Vorfeld abgefragten Zahlen belegen jedoch, dass dies bisher für die Betroffenen zu keinen spürbaren Verbesserungen führt (siehe Antwort auf Frage 9, Seite 16).
  • Die Gründe für den Bedeutungszuwachs der psychischen Belastung lassen sich aus Sicht der Bundesregierung durch folgende Trends beschreiben: in der Informations- und Kommunika-tionstechnik, durch die Globalisierung, in der Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft, in Bezug auf Raum, Zeit und Anstellung und bei der Subjektivierung. Gleichzeitig wird auf die zentrale Bedeutung der Unternehmenskultur hingewiesen, insbesondere auf die Erfahrung von Führung als Ressource oder aber als Risiko (siehe Antwort auf Frage 8, Seite 15-16).
  • Die Bundesregierung sieht nach wie vor für eine eigenständige Verordnung, z.B. in Form einer Anti-Stress-Verordnung, keine Notwendigkeit. Offen sei die Frage, inwieweit der Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis hinreichend ist (siehe Antwort zur Frage 9, Seite 16). Alles in allem beruft sich die Bundesregierung auf die gleiche Aussage wie schon 2012.4
  • Die Erlangung weiterer wissenschaftlicher Erkenntnisse ist das Hauptziel des von der BAuA durchgeführten Forschungsvorhabens „Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt – wissenschaftliche Standortbestimmung“. Das Projekt ist auf drei Jahre angelegt (2014-2016) und gliedert sich in drei aufeinander aufbauende Phasen. Das Ziel besteht in der Ableitung möglicher Handlungsempfehlungen zur psychischen Gesundheit.5


1 Kleine Anfrage mit Drs.: 17/9287 - siehe Antwort auf Frage 4, S. 7

2 Kleine Anfrage mit Drs.: 17/9287 - siehe Antwort auf Frage 4, S. 7

3 Kleine Anfrage mit Drs.: 17/9287 - siehe Tabelle 1, S. 7

4 Kleine Anfrage mit Drs.: 17/9287 - siehe Antwort auf die Fragen 26 und 27, S. 25-26

5 Die Höhe der gesamtgesellschaftlichen Kosten, die in den Jahren 2012 und 2013 durch psychische Erkrankungen im Vergleich zu 2011, 2002 und 1992 verursacht wurden, liegen der Bundesregierung gemäß ihrer Antwort zu Frage 5 auf Seite 7 nicht vor. Wir verweisen hier auf die Höhe der Kosten aus dem Jahr 2010 aus der Antwort der Bundesregierung auf unseren Kleine Anfrage (Drs.: 17/9287), wo diese Zahlen der Bundesregierung offensichtlich noch vorlagen: Nach der Krankheitskostenrechnung des statistischen Bundesamtes lagen im Jahr 2008 die direkten Kosten (Krankheitsbehandlung, Prävention, Rehabilitation, Pflegemaßnahmen, Verwaltungskosten) für psychische und Verhaltensstörungen bei 28,6 Milliarden Euro (11,3 Prozent der Gesamtkosten, dritter Rang). Zu den indirekten Kosten: Auf psychische und Verhaltensstörungen ließen sich im Jahr 2008 18% aller verlorenen Erwerbsjahre, ein Produktionsausfall von 26 Mrd. Euro und ein Ausfall an Bruttowertschöpfung von 45 Mrd. Euro (1,8 % des Bruttoinlandprodukts) zurückführen. Die Bundesregierung verweist zudem auf eine Schätzung von Bödecker und Friedrichs aus dem Jahr 2011, der zufolge der Anteil der Krankheitskosten, die auf die Arbeit zurückzuführen sind, jährlich bei etwa 44 Mrd. Euro liegt. Auf psychische und Verhaltensstörungen entfielen nach dieser Schätzung 6,3 Milliarden Euro (siehe Antwort auf Frage 12, Seiten 14-15).


linksfraktion.de, 11. August 2014