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Spaltung der Gesellschaft trotz Wachstum vertieft

Im Wortlaut,

Am 17. Januar konstituiert sich die Enquete-Kommission "Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität" des Bundestages. Für DIE LINKE arbeiten in ihr neben den beiden Abgeordneten Ulla Lötzer und Sabine Leidig zwei renommierte Sachverständige - Professor Ulrich Brand und Dr. Norbert Reuter.


Professor Brand, Sie lehren Internationale Politik an der Universität Wien und sind Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat von Attac Deutschland. Was hat Sie motiviert als Sachverständiger in dieser Enquete-Kommission mitzuarbeiten?

Ulrich Brand: Der Auftrag der Enquete-Kommission, nämlich die Rolle von Wirtschaftswachstum als unhinterfragtem Dogma und dem Bruttoinlandsprodukt als hauptsächlichem Indikator zu untersuchen und Alternativen anzudenken, scheint mir in der aktuellen multiplen Krise sehr wichtig. In eigenen Forschungen zur sozial-ökologischen Krise und notwendigen tiefgreifenden Veränderungen habe ich diese eingeschränkte Sicht ja immer wieder kritisiert. Dieses Wissen nun in die Enquete-Kommission einzubringen und gleichzeitig zu lernen, finde ich sehr reizvoll.

Dr. Reuter, Sie arbeiten als Volkswirt im Bereich Wirtschaftspolitik bei der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di und haben ein Buch geschrieben mit dem Titel "Wachstumseuphorie und Verteilungsrealität". Wachstum schafft Arbeitsplätze und sichert Wohlstand, heißt es nicht nur in den Wirtschaftswissenschaften, sondern auch in den Zeitungen. Wie kann man als Gewerkschafter dennoch das Wachstum kritisieren?

Norbert Reuter: Mit dem Begriff Wachstumseuphorie kritisiere ich die Haltung, man müsse die Wirtschaft nur genügend deregulieren, um auf einen natürlichen hohen Wachstumspfad zurückzukehren. Angesichts der globalen Umweltkrise muss es heute jedoch um die Ausrichtung der Wirtschaft auf qualitatives Wachstum gehen. In den Bereichen Bildung, Pflege und Gesundheit muss zum Beispiel deutlich mehr getan werden, um den Zukunftsanforderungen gerecht zu werden. Deshalb brauchen wir auch Indikatoren, die derartige qualitative Veränderungen abbilden.

Viele kritische Stimmen wollen die ökologische Frage lösen, indem sie den Naturverbrauch stärker besteuern. Umwelt soll ihren Preis bekommen. Das trifft aber vor allem die einkommensschwachen Schichten und nicht die Reichen. Wie kommt man aus dieser Falle raus?

Norbert Reuter: Eine stärkere Besteuerung des Naturverbrauchs reicht nicht aus, um die ökologischen Probleme zu lösen. Unter anderem müssen im Zuge einer umfassenden Steuerreform einkommensschwache Schichten ent- und hohe Einkommen, Gewinne und Vermögen stärker belastet werden. Daraus resultierende höhere Einnahmen sollte der Staat für Investitionen in den ökologischen Umbau und den Ausbau der öffentlichen Daseinsvorsorge verwenden. So würde der Strukturwandel in Richtung einer Dienstleistungsgesellschaft vorangetrieben, die sich durch einen sinkenden Naturverbrauch auszeichnet.

SPD und Grüne setzen auf einen Green New Deal. Sie wollen ein sogenanntes grünes Wachstum, die Förderung und den Export umweltfreundlicher Technologien. Lassen sich damit wirklich alle globalen Umweltprobleme lösen und gleichzeitig Industriearbeitsplätze in Deutschland sichern?

Ulrich Brand: Der Green New Deal wird aus meiner Sicht keine Probleme lösen, da er Fragen gesellschaftlicher und vor allem ökonomischer Macht nicht thematisiert. Die Grundidee besteht darin, geeignete Rahmenbedingungen zu schaffen, damit ProduzentInnen und KonsumentInnen sich anders verhalten. Doch ein ökologischer Kapitalismus, der auf das Profitprinzip als Triebkraft für einen sozial-ökologischen Umbau setzt, hat den Kern des Problems, nämlich die kapitalistische Produktions- und Lebensweise, die ja bis in die Bedürfnisstrukturen der Menschen reicht, nicht erkannt.

Welches ist für Sie beide die dringendste Frage, auf die Sie sich von der Enquete-Kommission eine Antwort erwarten?

Norbert Reuter: Trotz in der Regel positiver, wenn auch in der Tendenz abnehmender Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts hat die öffentliche und private Armut in Deutschland wie in vielen anderen Ländern zugenommen und sich die Spaltung der Gesellschaft vertieft. Wie kann die künftige wirtschaftliche Entwicklung demokratisch gestaltet und organisiert werden, damit die gesamte Bevölkerung eine Verbesserung der Lebensumstände erfährt, auch wenn das BIP-Wachstum weiter abnimmt oder sogar ganz ausbleibt?

Ulrich Brand: Es geht um tragfähige Vorschläge, wie eine Konversion jener Strukturen – industrieller Art, aber auch im Landwirtschafts- und Dienstleistungsbereich – erreicht werden kann, dass die gesellschaftlichen Bedürfnisse von Ernährung und Wohnen, Mobilität, Kommunikation und anderes auf innergesellschaftlich und international produktive, gerechte und ökologisch nachhaltige Art befriedigt werden – und welche Rolle staatliche Politik und andere Akteure dabei spielen. Die unmittelbaren Interessen der Lohnabhängigen gilt es zu berücksichtigen. Dafür benötigen wir konkrete Projekte und einen umfassenden Horizont einer neuen Lebensweise.

linksfraktion.de, 16. Januar 2011