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Soziale Menschenrechte: Deutschland ist Schlusslicht

Interview der Woche von Azize Tank,

 

Vor 50 Jahren trat die Europäische Sozialcharta in Kraft. Seitdem wurde sie mit zahlreichen Zusatzprotokollen ergänzt und 1996 grundlegend überarbeitet. Deutschland hat die aktuelle Charta aber nie ratifiziert, manche Zusatzvereinbarungen nicht einmal unterschrieben – und verstößt, etwa mit den Gesetzen der Agenda 2010, gegen eine ganze Reihe sozialer Rechte. DIE LINKE fordert anlässlich des Jubiläums der Europäischen Sozialcharta, endlich Konsequenzen aus den aktuellen Missständen zu ziehen, die überarbeitete Charta zu ratifizieren und auch den Zusatzprotokollen Geltung zu verschaffen. Im Interview der Woche erläutert Azize Tank, Sprecherin für Soziale Menschenrechte und Mitglied im Ausschuss für Arbeit und Soziales, die Einzelheiten.

Die Fraktion DIE LINKE bringt in dieser Woche pünktlich zum Jubiläum den Antrag „50 Jahre Europäische Sozialcharta“ in den Bundestag ein. Deutschland solle seine Verpflichtungen einhalten und die Sozialcharta weiterentwickeln. Worum geht es Ihnen konkret?

Azize Tank: Die Europäische Sozialcharta bekräftigt die Universalität und Unteilbarkeit der Menschenrechte, indem sie die Europäische Menschenrechtskonvention um einen Katalog wirtschaftlicher und sozialer Menschenrechte ergänzt. Die Sozialcharta bildet somit das europäische Gegenstück zum Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. Zugleich spiegelt die Sozialcharta jedoch lediglich den Stand der Entwicklung sozialer Menschenrechte in der zweiten Dekade nach dem Zweiten Weltkrieg wider. Seitdem sind die sozialen Menschenrechte der Sozialcharta durch Zusatzprotokolle und insbesondere durch eine revidierte Fassung der Europäischen Sozialcharta gestärkt und weiterentwickelt worden. Deutschland stellt hier jedoch ein Schlusslicht dar. Die revidierte Sozialcharta wurde vor fast einer Dekade unterzeichnet, aber nach wie vor nicht ratifiziert. Das Zusatzprotokoll zur Europäischen Sozialcharta über Kollektivbeschwerden, das Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen mit Konsultativstatus beim Europarat die Möglichkeit einräumt, eine Beschwerde wegen der Verletzung sozialer Menschenrechte zu erheben, wurde nicht einmal unterzeichnet. Die Sozialcharta muss aber zum wichtigsten Bezugspunkt und Grundlage einer Europäisierung der Standards von Arbeitnehmerrechten werden als Ausgangspunkt eines sozialen Europa.

Mit Blick auf Deutschland: Kann die Bundesregierung, kann die Gesetzgebung denn da so viel ändern? Viele Punkte wie etwa die Entlohnung fallen doch eher in den Bereich der Tarifpartnerschaft, oder?

Die aktuelle Debatte um den Mindestlohn zeigt doch deutlich, was durch gesetzgeberische Politik möglich ist. Und da bleibt noch viel zu tun, bis der Mindestlohn einerseits wirklich für alle gilt und andererseits die Höhe des Lohnes wirklich fair ist. Auch in anderen Fragen kann der Gesetzgeber dafür sorgen, dass die Rechte der Europäischen Sozialcharta garantiert werden. So kritisierte der Europäische Ausschuss die durch Hartz IV eingeführten Sanktionen als Verstoß gegen das in Artikel 1 Absatz 2 der Sozialcharta garantierte Recht, seinen Lebensunterhalt durch eine frei übernommene Tätigkeit zu verdienen. Ähnliches gilt für Abschiebungen, die die Schranken des Artikels 19 Absatz 8 verletzen oder bei der Gleichbehandlung anderer Staatsangehöriger beim Zugang zur Sozialversicherung und mithin der Anerkennung des Recht auf soziale Sicherheit aus Artikel 1 Absatz 4. Auch mit Blick auf das Recht auf soziale und medizinische Unterstützung nach Artikel 13 Absatz 1 und 3 hat der Ausschuss Zweifel an der Gleichbehandlung von nicht-deutschen Staatsangehörigen.

Warum hat Deutschland die 1996 überarbeitete Sozialcharta nur unterzeichnet und nicht ratifiziert?

Die Maßnahmen zur Flexibilisierung auf dem Arbeitsmarkt und die Austeritätspolitik stehen im Wiederspruch zu dem Ziel der Europäischen Sozialcharta, die Grundsätze eines wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts zu fördern. Die Bundesregierung wollte wohl kein Signal für die Stärkung sozialer Rechte setzen, sondern ein Programm der Neuen Mitte umsetzen, das auf eine Reduzierung sozialer Sicherheit basierte. Die Stärkung sozialer Menschenrechte wie das Recht auf Schutz gegen Armut und soziale Ausgrenzung; das Recht auf Wohnung; Kündigungsschutz; das Recht auf Arbeitslosenunterstützung oder Rechte der Arbeitnehmervertreter im Betrieb, die in der revidierten Sozialcharta verankert sind, passen nicht dazu. Die aktuelle Bundesregierung bekräftigt zwar formal die Ratifizierungsabsicht, in Wirklichkeit wird diese aber politisch blockiert. Als Gründe werden vor allem das in der revidierten Sozialcharta verbriefte Diskriminierungsverbot genannt sowie die Auslegung des Ausschusses für soziale Rechte, der für die Überwachung der Sozialcharta zuständig ist. Aber das Thema bleibt auf der Agenda. Erst im letzten Monat hat die parlamentarische Versammlung des Europarats die Mitgliedstaaten aufgefordert, die revidierte Sozialcharta zu ratifizieren. Die Präsidentin des Parlaments hat das auch bei ihrem Besuch beim Bundestagspräsidenten Norbert Lammert deutlich angesprochen.

Wie viel ist so eine Charta noch wert in Zeiten von Finanzkrisen, Kürzungsprogrammen und dem radikalen Ausverkauf sozialer Rechte in so vielen Ländern Europas? Nur noch Folklore?

Mit der europäischen Krisenpolitik werden soziale Menschenrechte massiv verletzt. Gerade deshalb gewinnen soziale Menschenrechte eine besondere Bedeutung. Soziale Menschenrechte sind unteilbar und justiziabel! Die Bundesregierung versucht diese Entwicklung aufzuhalten, indem sie die Ratifizierung der revidierten Europäischen Sozialcharta, aber auch des Fakultativprotokolls zum UN-Sozialpakt, der ein Individualbeschwerdeverfahren vorsieht, verweigert. Dabei hat sie die Justitiabilität der wirtschaftlichen und sozialen Menschenrechte, die in den Fakultativprotokollen zur UN-Behindertenrechts-, UN-Kinderrechts- oder UN- Frauenrechtskonvention enthalten sind, bereits anerkannt. Die Tatsache, dass soziale Menschenrechte universell gelten und einklagbar sind, kann nicht mehr rückgängig gemacht werden. Ihre Weiterentwicklung kann jedoch verschleppt werden. Die Parlamentarische Versammlung des Europarates hat sich bereits im Juni 2012 als erste internationale politische Institution gegen die Austeritätspolitik als Bedrohung sozialer und demokratischer Rechte ausgesprochen. Das wurde in den Krisenstaaten natürlich deutlicher sichtbar und stärker wahrgenommen als hier in Deutschland. Aber es dürfte ein Beitrag für eine Veränderung der gesellschaftlichen Debatte gewesen sein, wie wir sie beispielsweise in Griechenland erlebt haben.

Wie können soziale Rechte in Europa rechtsverbindlich verbrieft werden und für Deutschland genauso bindend gemacht werden wie für alle anderen europäischen Länder?

Das Zusatzprotokoll von 1988, in dem die Sozialcharta unter anderem um das Recht auf Chancengleichheit und Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf ohne Diskriminierung aufgrund des Geschlechts oder das Recht älterer Menschen auf sozialen Schutz ergänzt wird, wurde vor einem Vierteljahrhundert zwar unterzeichnet, aber nach wie vor nicht ratifiziert. Wir wollen diese skandalöse Menschenrechtspolitik der Bundesregierung überwinden. Es reicht nicht, dass die Bundesregierung dem Europäischen Ausschuss, einem Kontrollgremium für die Sozialcharta, Berichte vorlegt, jedoch keine Konsequenzen aus den vom Ausschuss festgestellten Missständen zieht. Das betrifft aktuelle Themen: etwa beim Versuch, über das Tarifeinheitsgesetz das Streikrecht zu beschränken. Dies wirft nicht nur Fragen bezüglich der Vereinbarkeit mit den im Grundgesetz verbrieften Grundfreiheiten auf, sondern auch hinsichtlich völkerrechtlicher Verpflichtungen Deutschlands nach der Europäischen Sozialcharta. Die Weiterentwicklung der Europäischen Sozialcharta etabliert schrittweise, ähnlich wie die Europäische Menschenrechtskonvention, einen individuellen Rechtsschutz. Deutschland muss die revidierte Europäische Sozialcharta ratifizieren und das Zusatzprotokoll über Kollektivbeschwerden unterzeichnen und ratifizieren, damit Arbeitnehmer- und Arbeitgeberorganisationen die Verletzung von wirtschaftlichen und sozialen Rechten anzeigen können.

 

linksfraktion.de, 24. Februar 2015