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Dietmar Bartsch © Marc DarchingerFoto: Marc Darchinger

»Soziale Gerechtigkeit ist für uns ein Heimspiel«

Im Wortlaut von Dietmar Bartsch, Der Tagesspiegel,

Der Chef der Linksfraktion im Interview über die Chancen von Rot-Rot-Grün, soziale Gerechtigkeit und seine Rolle als Lieblingslinker der SPD. Interview: Hans Monath und Rainer Woratschka

 

Herr Bartsch, glauben Sie noch an Rot-Rot-Grün im Bund?

Dietmar Bartsch: Wir brauchen in Deutschland dringend einen Politikwechsel – den kann nur ein Mitte-Links-Bündnis schaffen. Wir müssen den sozialen Zusammenhalt im Land wieder herstellen. Außerdem droht das große Friedensprojekt Europäische Union zu scheitern, wenn Deutschland seine Austeritätspolitik fortsetzt. Wir stehen vor schweren Aufgaben. Wir müssen verhindern, dass dem Brexit, der horrenden Jugendarbeitslosigkeit im Süden Europas und dem Aufschwung der Rechtspopulisten in vielen EU-Ländern weitere schlimme Entwicklungen folgen. Deshalb ist ein Politikwechsel in der zentralen Industriemacht Europas notwendig.

Was bedeutet die Wahl von Martin Schulz zum SPD-Kanzlerkandidaten für die Möglichkeit eines Linksbündnisses nach der Bundestagswahl?

Die Ausrufung von Martin Schulz zum Kanzlerkandidaten macht ein Mitte-Links-Bündnis eher möglich. Solange Sigmar Gabriel SPD-Chef war, kam seine Partei nicht über 20 Prozent hinaus – das reichte numerisch nicht für Rot-Rot- Grün. Lassen Sie es mich so sagen: Die Chancen für ein Mitte-Links-Bündnis haben sich zahlenmäßig verbessert. Ob sie sich inhaltlich verbessert haben, weiß ich nicht, weil Martin Schulz sich bisher inhaltlich im Vagen bewegt.

Sie haben zu Sigmar Gabriel ein gutes Verhältnis – wie ist das nun mit Martin Schulz?

Es stimmt, ich habe zu Sigmar Gabriel persönlich ein entspanntes Verhältnis, auch wenn wir politisch hart miteinander ringen. Das ist bei Martin Schulz nicht anders. Mein Bild von ihm wurde durch unseren verstorbenen Parteichef Lothar Bisky geprägt. Der war Fraktionsvorsitzender der Linken im Europäischen Parlament, als Schulz Fraktionschef der Sozialdemokraten war. Bisky lobte Schulz immer als verlässlichen Partner, er arbeitete gut mit ihm zusammen. Das machte mich nachdenklich, denn Schulz galt ja als Repräsentant des konservativen Flügels der SPD.

Was schätzen Sie denn am Kandidaten Martin Schulz?

Mir gefällt, dass er nicht über jedes Stöckchen der Konservativen springt. Im Gegensatz zu anderen Sozialdemokraten stellt er nicht ständig irgendwelche Forderungen auf, was die Linkspartei zu tun oder zu unterlassen habe. Er konzentriert sich auf die SPD. Das ist vernünftig. Im Wahlkampf sollte sich jede Partei für ihre eigenen Inhalte werben, statt permanent über Konstellationen zu spekulieren. Das schadet nur.

Nimmt Martin Schulz mit seiner Beschwörung sozialer Gerechtigkeit der Linkspartei nicht auch Stimmen weg?

Der „Hype“ um Martin Schulz, den die SPD sorgfältig inszeniert hatte und bei dem die Medien auch bereitwillig mitspielten, ging zu Lasten aller anderen Parteien, auch der Linkspartei. Das hat sich gelegt und wird sich weiter legen. Wenn das Thema soziale Gerechtigkeit im Wahlkampf im Mittelpunkt steht, kann das für uns nur gut sein. Das wird für uns ein Heimspiel, denn dort haben wir die höchste Kompetenz.

Sie gelten als „Lieblingslinker“ der deutschen Sozialdemokratie. Wie haben Sie sich diesen Status erworben – mit besonderer Kompromissbereitschaft?

Jetzt lassen Sie die Kirche mal im Dorf. Fakt ist: Viele in der SPD kennen mich seit vielen Jahren und sie kennen mich als einen, der harte Auseinandersetzungen führte und führt, auch mit der SPD. Aber eines ist doch klar: Wenn ich gesellschaftliche Veränderungen durchsetzen will in Deutschland, dann ist das nur mit einem Mitte-Links-Bündnis möglich – dafür brauchen wir die SPD. Nach der Bundestagswahl geht es nicht darum, einfach den Lokführer auszuwechseln. Es ist nötig, dass der ganze politische Zug auf ein neues Gleis gesetzt wird. In Richtung sozialer und ökologischer Fortschritt.

Wie reagieren Sie, wenn Ihre SPD- Freunde sagen: Mit Dietmar Bartsch würden wir gerne koalieren, aber mit einer Sahra Wagenknecht, das geht gar nicht?

Das sind taktische Spielchen, die nach politischem Bedarf angezettelt werden. Ich war früher selbst einer, mit dem manche Sozialdemokraten nichts zu tun haben wollten, weil ich aus der SED kam. Die SPD sollte sich mit der Bewertung von Politikern der Linken zurückhalten. Ich stehe auch nicht da wie einst die Punktrichter beim Eiskunstlauf und halte Schildchen mit Noten für SPD-Politiker in die Höhe.

Wie groß müsste die Mehrheit von Rot-Rot-Grün im Bundestag aus Ihrer Sicht sein, damit diese Regierung auch stabil und verlässlich arbeiten könnte?

Die Aufgabe der Linken ist es, möglichst viel Gewicht auf die Waage des Politikwechsels zu bringen. Permanente Spekulationen über mögliche Mehrheiten halte ich für komplett blödsinnig. Das nervt die Menschen nur. Auf eines muss man hinweisen: Weder die Grünen noch die SPD schließen aus, dass sie nach dem 24. September Angela Merkel zur Kanzlerin wählen. Das tut nur die Linkspartei.

Die große Koalition ist doch auch für Sozialdemokraten ein Schreckgespenst…

Das sagen die Sozialdemokraten, aber sie halten sich in Wirklichkeit jede Hintertür offen. Martin Schulz muss glasklar erklären, dass er nicht als Minister in ein Kabinett unter Angela Merkel eintritt. Das würde ihn glaubwürdiger machen. Die Scheu der Sozialdemokraten vor der Festlegung gegen eine Große Koalition macht mich sehr skeptisch.

Kommen wir zu den politischen Inhalten. Die SPD tut sich schwer mit ihrem Steuerkonzept, die Linkspartei hat ihres schon vorgestellt. Kann es ein Linksbündnis ohne Steuererhöhungen geben?

Es geht nicht um Steuererhöhungen, es geht um Steuergerechtigkeit. Wir brauchen eine große Steuerreform in Deutschland. Es ist doch ein Irrsinn, dass Finanzminister Wolfgang Schäuble seit mehr als zehn Jahren von anderen europäischen Regierungen Reformen einfordert, und wir in Deutschland in dieser Zeit keine einzige Veränderung hatten – außer bei der Erbschaftsteuer, die vom Bundesverfassungsgericht erzwungen wurde.

Was wollen Sie ändern?

Das deutsche Steuersystem ist aus dem vorigen Jahrhundert. Kleine und mittlere Einkommen müssen entlastet werden, bei Spitzenverdienern muss die Steuerquote steigen. Wir müssen den Mut haben, bei riesigen Einkommen, Vermögen und Erbschaften mehr zu holen. Die Verteilung von Reichtum in Deutschland ist doch obszön. Deshalb wollen wir eine Millionärssteuer, brauchen eine wirkliche Reform der Erbschaftssteuer und auch bei anderen Steuerarten Veränderungen, die deutlich mehr Gerechtigkeit bringen.

Muss eine Steuerreform das zentrale Projekt einer rot-rot-grünen Regierung werden?

Sie ist eines von mehreren Projekten. Wir müssen nachhaltig in die Infrastruktur investieren, das gesetzliche Rentensystem und das Gesundheitssystem zukunftsfest machen, Kinderarmut endlich konsequent bekämpfen.

Ist ein Linksbündnis möglich, wenn die Hartz-Reformen und die Rente mit 67 nicht rückabgewickelt werden?

Es muss deutliche Veränderungen geben. Zu einer zukunftsfesten gesetzlichen Rente zählt auch das Renteneintrittsalter. Wir wollen keinem verbieten länger zu arbeiten, aber das für alle erzwingen zu wollen, ist der falsche Weg. Und wir wollen eine solidarische Mindestrente von 1050 Euro - wobei ein Abstand zu denen, die lebenslang gearbeitet und eingezahlt haben, gewahrt bleiben muss. Das alles ist finanzierbar. In Österreich hat der Durchschnittsrentner rund 800 Euro mehr als in Deutschland. Was die Hartz-Gesetze betrifft: Sie sind Ursache für den ausufernden Niedriglohnsektor und das unerträgliche Ausmaß prekärer Beschäftigung. Natürlich würde eine Mitte-Links-Regierung das korrigieren.

Die SPD sagt: Wenn die Linke sich nicht zu EU und Nato bekennt und Auslandseinsätze mitträgt, gibt es keine gemeinsame Regierung. Werden Sie sich hier kompromissbereit zeigen und bisherige Positionen räumen?

Es ist Unsinn, von einer anderen Partei öffentliche Bekenntnisse zu verlangen. Manche Sozialdemokraten haben nicht verstanden, dass wir eine selbstständige Partei sind. Ich verlange von der SPD doch auch nicht, dass sie die Kriegskredite von 1914 zurückzahlt. Das ist absurdes Zeug. Jede Partei möge für ihr Wahlprogramm kämpfen. Wenn die Wähler für eine Mehrheit sorgen, muss man sich zusammensetzen. Wer mit Kompromissangeboten in einen Wahlkampf geht, hat schon verloren.

Zugeständnisse der Linkspartei in der Außen- und Sicherheitspolitik gibt es also erst in den Tagen nach der Bundestagswahl?

Es wird weder in der Außen- und Sicherheitspolitik, noch in der Renten- und Sozialpolitik Zugeständnisse geben, es gibt nur unser Angebot an die Wähler. Wenn wir in Verhandlungen über Koalitionen gehen, haben wir bisher immer Kompromisse erzielt. Jetzt gilt: Unser gesamtes Politikangebot ist nicht verhandelbar.

Um in die Regierung zu gelangen, benötigen Sie nach bisherigen Prognosen noch einen weiteren Partner. Sind die Grünen mit ihrem Spitzenpersonal, das eher für Schwarz-Grün als für Rot-Grün steht, falsch aufgestellt?

Zu den personellen Aufstellungen anderer Parteien äußere ich mich nicht, weil ich erwarte, dass die das bei uns auch nicht machen. Deutlich ist doch, dass die Grünen vor allem eines wollen: in die Regierung kommen. Bis vor kurzem war dafür Schwarz-Grün die einzige Option. Mit Blick auf den vormaligen Zustand der SPD kann ich verstehen, dass man auf die Idee kam, es gehe nur mit Merkel. Aber wer weniger Probleme mit Horst Seehofer, Markus Söder und Andreas Scheuer hat, als mit der Linken zu koalieren, der bekommt natürlich bei einem Teil seiner Wähler ein Problem. Und zwar zu Recht.

Mit wem wäre das Regieren aus Ihrer Sicht denn schwieriger: mit der SPD oder den Grünen?

Klar ist: In einer Mitte-Links-Koalition müssten die Grünen eher den bürgerlichen Teil geben. Es ist nicht zu erwarten, dass sie sich in einer Regierung hammerlinks verhalten würden. Es wäre auch gar nicht ihre Aufgabe. Mit Links und demokratischem Sozialismus hat diese Partei nichts am Hut, Gesellschaftsveränderungen müssen ihr abgerungen werden.

Nachdem die SPD im Saarland mit der Aussicht auf Rot-Rot-Grün nur die Konservativen mobilisiert hat, hat Martin Schulz für den Bund noch eine andere Koalitionsoption ins Spiel gebracht: eine Ampel mit FDP und Grünen. Was halten Sie davon?

Ich will die taktischen Überlegungen der SPD nicht kommentieren. Ich stelle nur fest, dass das ganze Koalitionsgerede den Sozialdemokraten nicht nutzt. Ich kann mir nicht vorstellen, wie Schulz mit der FDP beim Thema soziale Gerechtigkeit Fortschrittliches durchsetzen will. Diese Partei hat sich selbst das Label Partei der Besserverdienenden gegeben. Daran hat sich bei allen Image-Veränderungen der Liberalen nichts geändert. Wer denkt, dass er mit der FDP eine Umverteilung von oben nach unten hinbekommt, liegt daneben. Ich weiß auch nicht, wie man ausgerechnet nach der Wahl im Saarland auf eine Ampel kommen kann. Schließlich haben es dort weder FDP noch Grüne überhaupt ins Parlament geschafft.

Welche Strahlkraft für ein rot-rot-grünes Bündnis geht denn von der Landesregierung in Berlin aus, die in der vergangenen Woche 100 Tage im Amt war?

Rot-Rot-Grün hat in Berlin mit der Causa Andrej Holm, die von der Opposition weidlich ausgeschlachtet wurde, nicht unbedingt einen schwungvollen Start hingelegt. Man hätte sich vorher entscheiden müssen: Entweder einigt man sich darauf, den Streit gemeinsam  durchzuhalten oder man beruft ihn gar nicht. Davon abgesehen glaube ich, dass sich die 100-Tage-Bilanz der Regierung sehen lassen kann. Rot-Rot-Grün hat es geschafft, einen Mentalitätswechsel einzuleiten. Hin zu einer modernen Kulturstadt und europäischen Metropole. Wobei hier jeder kleinste Fehler unter besonderer Beobachtung steht. Da ist es mitunter in Thüringen oder in Brandenburg etwas leichter zu regieren.

Ist Berlin ein Lackmus-Test für Rot- Rot-Grün im Bund?

Alle drei Regierungen, in denen wir Verantwortung tragen, funktionieren. Berlin ist, da es sich um die Hauptstadt handelt, besonders im Fokus. Hier haben wir zu beweisen, dass es miteinander klappt – und zwar solidarisch und nicht mit der Aufteilung in Koch und Kellner, wie sie Gerhard Schröder zwischen SPD und Grünen vorgenommen hat. Das wäre Politik des vergangenen Jahrhunderts und ist nicht mehr angesagt.

Der Tagesspiegel,