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Souveränität statt Big Brother

Im Wortlaut von Sahra Wagenknecht,

Sahra Wagenknecht über die notwendige Neuordnung des Verhältnisses zwischen der Bundesrepublik und den USA

 

Die Enthüllungen über die US-Spionage zeigen: Die USA sind ein Regime der Angst. Die Überwachung des Handys der Kanzlerin sowie von Oppositionspolitikern sind nur die Spitze des Eisbergs. Ein »Weiter So!« in den deutsch-amerikanischen Beziehungen ist inakzeptabel. Es geht um die Sicherheitsinteressen Deutschlands, nicht um eine Privatsache von Merkel & Co.

Der eigentliche Skandal ist die Überwachung von Millionen Bundesbürgern, die selbst die Fantasie Orwells übertrifft und totalitäre Systeme vor Neid erblassen lässt. Die Aktivitäten der National Security Agency (NSA) sowie der Satellitendienste in Europa strafen auch die Illusion von der freien Welt des Internets Lügen: Konzerne wie Facebook, Yahoo und Google kooperieren mit den Geheimdiensten bzw. werden angezapft.

Wir verdanken die Enthüllungen dem Mut des jungen Mannes und einstigen CIA-Mitarbeiters Edward Snowden. Er ist der wichtigste Zeuge gegen diesen Angriff auf unsere Freiheit. Gerüchte, er befinde sich an Bord des bolivianischen Regierungsfliegers, veranlassten die EU-Mitgliedstaaten Frankreich, Spanien, Italien und Portugal auf Geheiß der USA, dem Präsidenten Evo Morales im Juli die Überflugrechte auf dem Rückweg von Moskau zu verweigern. Mit anderen Worten: Es wurde mit dem Abschuss der Präsidentenmaschine gedroht. Das ist eine unvorstellbare Aggression und Verletzung des Völkerrechts bzw. der Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen und zeigt die Angst der USA vor der Wahrheit. Die Vereinten Nationen verurteilten die erzwungene Landung von Morales in Wien. Die Botschaft des US-Präsidenten an Snowden lautete: Du bist außerhalb Russlands nicht sicher.

Snowden wird aber offenbar auch von Angela Merkel gefürchtet. Ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages im Auftrag der Linksfraktion zeigt: Deutschland könnte ohne Probleme Snowden sicheres Geleit und Asyl gewähren, insbesondere um vor einem NSA-Untersuchungsausschuss auszusagen. Die Bundesregierung hat jedoch kein Interesse an einem solchen Ausschuss geschweige denn einem Auftritt Snowdens. Sie müsste sich folgende Fragen gefallen lassen: Was wusste der Bundesnachrichtendienst (BND) und was wusste die Kanzlerin wann? Genau das muss aufgeklärt werden. Und der Bundestag sollte die US-Regierung auffordern, die Strafverfolgung von Edward Snowden sowie der Whistleblowerin Chelsea (Bradley) Manning umgehend einzustellen. Das wäre eine Sternstunde des Parlaments.

Deutschland muss das Verhältnis zu den USA neu ordnen: Die geheimdienstliche Zusammenarbeit zwischen den USA und Deutschland ist aufzukündigen, die Bundesanwaltschaft muss strafrechtliche Ermittlungen gegen die für Spionage Verantwortlichen einleiten. Die Abhöreinrichtungen in der US-Botschaft sowie in weiteren US-Institutionen in Deutschland sind sofort zu demontieren.

Die Abkommen der Europäischen Union zum Datenaustausch – darunter der Austausch von Fluggastdaten (PNR), Bankdaten (SWIFT) und die Vorratsdatenspeicherung – sind zu annullieren. Darüber hinaus muss das geplante Freihandelsabkommen mit den USA beerdigt werden, es ist ohnehin schädlich.

Vor allem aber muss es Konsequenzen für die militärische Zusammenarbeit geben: US-Einrichtungen wie die Militärbasis Ramstein und die US-Militärhauptquartiere in Stuttgart und Wiesbaden müssen geschlossen werden. Der Generalbundesanwalt sollte auch ein Ermittlungsverfahren einleiten, um zu klären, ob von diesen Einrichtungen Drohneneinsätze zur gezielten Tötung von Menschen unterstützt wurden. Die Bundesregierung muss gewährleisten, dass US-Einrichtungen nicht für Folterflüge der CIA genutzt werden. Die taktischen US-Atomwaffen auf dem Stützpunkt Büchel sind sofort abzuziehen, eine Duldung der Lagerung durch Deutschland verletzt den Atomwaffensperrvertrag.

Die UNO-Charta sieht die Souveränität und die Gleichheit der Staaten vor dem Völkerrecht vor. Dies muss auch für die Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und Deutschland gelten. Spätestens mit dem 2+4-Vertrag und der deutschen Einheit sind alliierte Vorbehaltsrechte hinfällig. Es ist Zeit, die »transatlantische Partnerschaft« neu zu begründen. Eine Kanzlerin, die auch jetzt noch das business as usual fortsetzen möchte, verrät die Freiheit und verletzt ihren Amtseid: die Interessen der Bevölkerung zu schützen.

neues deutschland, 4. November 2013