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Seit Jahren auf Verschleiß gefahren

Im Wortlaut von Frank Tempel,

 

Von Frank Tempel, stellvertretender Vorsitzender und Leiter des Arbeitskreises Demokratie, Recht und Gesellschaftsentwicklung der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag

 

Die Ereignisse vor dem Hauptbahnhof Köln zu Silvester haben viele Menschen aufgeschreckt und verunsichert. Das ist verständlich. Trotzdem ist es Aufgabe der Politik, mit klarem Kopf zu analysieren, was geschehen ist, und Maßnahmen zu ergreifen, um ähnlichen Vorfällen vorzubeugen.   

Die Reaktion der Bundesregierung zu den unseligen Ereignissen läuft aber wieder nach den bekannten Mustern ab: Die Bundesregierung zieht Gesetzesverschärfung aus der Schublade, die schon lange geplant sind, bisher aber nicht durchsetzbar waren und zur Lösung bestehender Probleme völlig ungeeignet sind. Beispielweise ist die hochauflösende, permanente Videoüberwachung öffentlicher Plätze zur Bekämpfung von Kriminalität ungeeignet, da eine bloße Verdrängung der Täter in unbeobachtete Bereiche stattfindet. Dafür handelt man sich aber eine potentielle Totalüberwachung der Bevölkerung ein. In Großbritannien mit seiner ausufernden Videoüberwachung wird geklagt, dass hunderttausende Kameras zwar aufzeichnen, die Aufnahmen aber wegen Personalmangels niemals angesehen werden und so ein Eingreifen bei aktuellen Vorkommnissen nicht möglich ist. Videokameras können nun mal keine Polizisten ersetzen.

Neu hingegen ist, dass man wie Innenminister de Maiziere die Verantwortung von sich wegdelegiert und die Polizisten vor Ort schuldig spricht. Wenn der oberste Dienstherr der Bundespolizei, die für die Sicherheit im Bahnhofsumfeld verantwortlich ist, den Einsatz zu Silvester kritisiert, muss er sich auch zur eigenen Verantwortung äußern. Er müsste einräumen, dass bei der Bundespolizei seit Jahren ein massiver Mangel an Personal herrscht. Überlastungen sind an der Tagesordnung, der Stand an Überstunden und Krankheitszeiten ist so hoch wie nie. Vor einem Jahr waren noch 2.750 fehlende Stellen zu verzeichnen. Die Überstundenzahl der Bundespolizisten hat sich in wenigen Monaten auf über 500.000 ausgeweitet. Viele Dienststellen sind nur zu 50 bis 75 Prozent besetzt. 

Nicht ganz neu, aber in der Intensität bisher kaum geschehen, wird pauschal auf ganze Bevölkerungsgruppen als Übeltäter verwiesen. Bevor überhaupt klar war, inwieweit Flüchtlinge unter den Tätern waren, wurde eine Verschärfung von Abschiebemöglichkeiten von Flüchtlingen gefordert und Staaten mit der Kürzung der Wirtschaftshilfe gedroht, welche Abzuschiebende nicht zurücknehmen wollen. Wie in einem Wettbewerb überbieten sich Politiker der Großen Koalition mit Forderungen. Damit soll Handlungsfähigkeit simuliert und eigenes Versagen überdeckt werden. 

Die Wahrheit ist aber, dass all diese Forderungen keines der Probleme lösen oder auch nur lindern. Der öffentliche Dienst insgesamt ist seit Jahren auf Verschleiß gefahren worden. Auf Kosten der  Beschäftigten werden immer mehr Aufgaben auf immer weniger Schultern verteilt. Die Überlastung der Länder und Kommunen ist seit dem Sommer 2015 nur sichtbar geworden. Vorhanden ist sie schon jahrelang. Die Ursache ist aber nicht der aktuelle Flüchtlingszuwachs, sondern die Politik der letzten zwei Jahrzehnte. 

Ohne ein entschiedenes Umsteuern werden sozialere Verhältnisse, die Integration von Flüchtlingen, der demographische Wandel und der notwendige Modernisierungsschub bei Bildung und Wissenschaft nicht möglich sein und sich die sozialen und politischen Spannungen verschärfen.