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»Sanktionen führen in existenzgefährdende Armut«

Im Wortlaut,

Michael David von der Diakonie Deutschland

 

Herr David, Sie sind am kommenden Montag als Sachverständiger für eine Anhörung des Ausschusses Arbeit und Soziales eingeladen? Könnten Sie einleitend ein paar Worte zu sich und der Diakonie sagen?

Michael David: Die Diakonie Deutschland – Evangelischer Bundesverband ist der soziale Dienst der evangelischen Kirchen. Wir setzen uns ein für Menschen, die am Rande der Gesellschaft stehen, die auf Hilfe angewiesen oder benachteiligt sind. Neben der tätigen Hilfe versteht sich die Diakonie als Anwältin der Schwachen. Darum benennen wir öffentlich die Ursachen von sozialer Not gegenüber Politik und Gesellschaft. In der Diakonie arbeiten rund 450.000 Hauptamtliche und 700.000 freiwillig Engagierte zusammen. Ich bin bei der Diakonie auf Bundesebene für das Arbeitsfeld "Sozialpolitik gegen Armut und soziale Ausgrenzung" zuständig.

Gegenstand der Anhörung sind insgesamt drei Anträge zum Themenkomplex Hartz IV. Die LINKE fordert die Abschaffung der Sanktionen bei Leistungen der Grundsicherung. Wie bewerten sie Sanktionen aus grundrechtlicher und sozialpolitischer Perspektive?

Die eine Million jährlich ausgesprochenen Sanktionen sind menschenrechtlich fragwürdig und verschärfen soziale Ausgrenzung. Das Grundrecht auf Sicherung des sozialen und kulturellen Existenzminimums wurde durch Urteile des Bundesverfassungsgerichts bestätigt. Es ist im Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte der Vereinten Nationen und in der Europäischen Sozialcharta festgeschrieben. Durch die Grundsicherung soll soziale und kulturelle Teilhabe verwirklicht werden. Darum kann das Existenzminimum nicht einfach beschnitten werden. Sanktionen führen zunehmend in existenzgefährdende Armut und Wohnungslosigkeit. Zudem gibt es keinen wissenschaftlichen Beleg für positive Effekte von Sanktionen auf die Leistungsberechtigten. Daher setzt sich die Diakonie Deutschland für die Abschaffung von Sanktionen im SGB II, zumindest für eine Verringerung von Sanktionsinstrumenten und bessere Hilfen für Langzeitarbeitslose ein.

Wie schätzen Sie diesbezüglich die bisherigen Aktivitäten der Bundesregierung ein und wie bewerten Sie diese?

Im vergangenen Sommer hat die Bund-Länder-Arbeitsgruppe "Rechtsvereinfachung im SGB II" Vorschläge für eine Entschärfung der Sanktionspraxis vorgelegt. Demnach sollten die Kosten der Unterkunft ausgenommen werden. Leistungsbeziehende über und unter 25 sollen gleich behandelt werden. Die Arbeitsgruppe will den Wiederholungstatbestand abschaffen und die Sanktionshöhe auf einen Teil des Regelsatzes beschränken. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat 100 Euro als feste Größe pro Sanktionsgrund vorgeschlagen. Im Vergleich zu einer Situation, in der Regelsatz und der Betrag für die Wohnkosten ganz gestrichen werden, wäre das schon eine deutliche Verbesserung. Es müsste aber klar werden, dass nicht vier Sanktionsgründe dann zur Komplettstreichung des Regelsatzes führen können, sondern eine Gesamtbegrenzung eingeführt wird. Die gesamte Fachöffentlichkeit fordert solche Entschärfungen, auch die Bundesagentur für Arbeit. Es ist mir ein Rätsel, warum nach einem Jahr immer noch nichts passiert ist. Trotzdem: Auch eine Entschärfung bleibt im grundsätzlichen Dilemma stehen, dass die Grundsicherung einerseits das Existenzminimum sichern soll, andererseits dann aber gekürzt wird. Und ich bezweifle, ob selbst eine Deckelung bei 30 Prozent existenzielle Not verhindern kann.

Die Diakonie hat jenseits des Themas Sanktionen massive Kritik an Hartz IV formuliert. Was wären ihre zentralen Eckpunkte für eine grundrechtlich fundierte und sozialpolitisch sinnvolle Reform der Grundsicherung?

Eine Million Langzeitarbeitslose bezieht seit vielen Jahren Leistungen, andererseits wird nur ein Drittel der Leistungsbeziehenden in der Arbeitslosenstatistik gezählt. Ein Fünftel der Menschen im Erwerbsalter pendelt zwischen Hartz IV und prekärer Erwerbstätigkeit hin und her. Es braucht einen existenzsichernden Mindestlohn ohne Ausnahmen, seine Höhe muss auf den Prüfstand. Die Grundsicherung ist jedoch mehr als eine arbeitsmarktpolitische Leistung. Kinder, Alleinerziehende, Eltern in der Elternzeit und prekär Beschäftigte beziehen Grundsicherungsleistungen, weil an anderer Stelle Hilfen fehlen. Darum muss die Seite der Existenzsicherung stärker in den Blick: soziale Beratungshilfen, etwa zur Entschuldung,  der Regelsatz und Zusatzbedarfe wie für den Ersatz einer kaputten Waschmaschine. Wir brauchen mehr Ermutigung und weniger Druck. Klaus Dörre hat in seiner Studie "Bewährungsproben für die Unterschicht festgestellt": Die meisten Hartz-IV-Beziehenden schließen unglaubliche Kompromisse, um auf dem Arbeitsmarkt Fuß fassen zu können. Sie müssen nicht umfassend kontrolliert werden, sondern brauchen passgenaue Hilfen. Ob eine Hilfe erfolgreich ist oder nicht, muss danach bemessen werden, ob es den Menschen dadurch konkret besser geht. Schnelle Vermittlung in prekäre Beschäftigung hilft nicht, Armut zu überwinden, sondern fördert Armut trotz Arbeit.

Haben Sie noch Wünsche, Bitten oder Anregungen an die Fraktion Die LINKE? 

Jede Begrenzung bei den Sanktionen ist ein wichtiger Fortschritt. Wahrscheinlich wird es lange dauern, bis in Deutschland Konsens darüber herrscht, dass in Armut Lebende nicht wegen mangelnder Kontrolle arm sind. Ich wünsche mir einerseits einen langen Atem – andererseits aber auch die Bereitschaft, realpolitisch jede Bewegung in die Richtung von weniger Repression zu unterstützen. Die Grundsätze müssen stimmen – die Bündnisfähigkeit aber auch.

linksfraktion.de, 26. Juni 2015