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Rekord im Jobcenter

Im Wortlaut,

Zahl der Sanktionen gegen Hartz-IV-Betroffene übersteigt die Millionengrenze

Von Fabian Lambeck

Deutschlands Jobcenter konnten am Dienstag einen traurigen Erfolg vermelden. Innerhalb eines Jahres verhängten sie so viele Sanktionen gegen Hartz-IV-Bezieher wie nie zuvor. Zwischen August 2011 und Juli 2012 zählten sie mehr als eine Million Strafen.

Deutschlands Jobcenter sind Spitze – zumindest beim Verhängen von Sanktionen. Von August 2011 bis Juli dieses Jahres wurden nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit (BA) mehr als eine Million Leistungskürzungen verhängt. Im Schnitt verringerte sich der Hartz-IV-Satz so um 116 Euro. Das ist schmerzhaft, erhält ein langzeitarbeitsloser Single doch gerade einmal 374 Euro pro Monat. Die meisten der Sanktionen wurden wegen sogenannter Meldeversäumnisse verhängt, so die BA. Wer nicht zum vereinbarten Termin im Jobcenter erscheint, dem wird das Arbeitslosengeld II um mindestens zehn Prozent gekürzt. Von den 1,017 Millionen Sanktionen entfielen mehr als 680 000 auf diese Kategorie. Dahingegen war die Weigerung, einen Job anzunehmen, in nur 148 000 Fällen der Grund für eine Kürzung.

Der neue Rekord kommt nicht überraschend, wie eine Sprecherin der BA am Dienstag betonte. So gebe es »weniger personelle Fluktuation in den Jobcentern als in den Vorjahren. Die Vermittler kennen daher inzwischen ihre Kunden besser und arbeiten auch professioneller.« Zudem gebe es wegen der großen Arbeitskräftenachfrage der Wirtschaft mehr freie Stellen für arbeitslose Hartz-IV-Empfänger. Deshalb würden Vermittler Hartz-IV-Betroffene öfters einladen, um ihnen Jobangebote zu unterbreiten. Dadurch komme es öfter als früher vor, dass Betroffene fest vereinbarte Termine versäumten. Allerdings sprechen die Zahlen der BA eine andere Sprache. Waren vor Ausbruch der Finanzkrise im Jahre 2007 durchschnittlich 123 897 Menschen pro Monat von mindestens einer Sanktion betroffen, galt das im Krisenjahr 2009 für 123 654 Hartz-IV-Bezieher. Somit sank die Zahl der Sanktionierten in der Krise um lediglich 243. Offenbar sind die konjunkturellen Effekte doch nicht ausschlaggebend. Vielmehr zeigt sich eine kontinuierliche Zunahme der Strafen insgesamt: Von knapp 777 000 im Jahre 2007 auf mehr als 912 000 im vergangenen Jahr. Insofern ist der sich nun abzeichnende Rekord für das laufende Jahr mehr als folgerichtig.

Einige Politik macht diese Zunahme um mehr als 40 Prozent misstrauisch. So forderte die Vorsitzende der Linkspartei, Katja Kipping, am Dienstag, dass der Bundestag prüfen solle, »ob die Angestellten der Jobcenter durch Druck und interne Anreizsysteme von oben dazu gezwungen werden, immer mehr Sanktionen zu verhängen«. Kipping kämpft seit Jahren gegen Hartz-IV-Sanktionen, die sie gegenüber »nd« als »politisch verordneten Entzug der Existenzgrundlage« bezeichnete.

Kritik an der Sanktionspraxis kam am Dienstag auch von Sozialverbänden. Der Bundesvorsitzende der Arbeiterwohlfahrt (AWO), Wolfgang Stadler, plädierte für eine Überarbeitung des Sanktionssystems. »Die Bestrafung führt selten zu der gewünschten Verhaltensänderung, dazu ist in erster Linie ein vertrauensvolles Verhältnis zwischen Arbeitssuchendem und Arbeitsvermittler wichtig«, so Stadler.

Die Sanktionen sind übrigens selbst innerhalb der BA umstritten. Insbesondere die harten Strafen für unter 25-Jährige bewerten viele Mitarbeiter in den Jobcentern als »eher negativ«, wie eine Untersuchung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) aus dem Jahre 2010 ergab.

Massive Kritik äußerten die Angestellten auch an der Streichung der Kosten für Miete und Heizung. Bei jüngeren Hartz-IV-Beziehern wird noch rücksichtsloser sanktioniert als bei über 25-Jährigen. Schon bei der ersten größeren »Pflichtverletzung« wird der Regelsatz um 100 Prozent gekürzt – und das für drei Monate. Entpuppt sich der junge Betroffene als »Wiederholungstäter«, zahlt das Amt auch keine Miete und Heizung mehr. Zudem gilt nur noch ein »reduzierter Anspruch auf medizinische Versorgung«, wie das IAB schreibt. Zum Arzt dürfen die Sanktionierten nur noch bei »akuten Schmerzen oder Schwangerschaft«.

neues deutschland, 21. November 2012