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Pro und Contra in der Beschneidungsdebatte

Interview der Woche von Christine Buchholz, Raju Sharma,

Christine Buchholz, friedenspolitische Sprecherin und Mitglied im Auswärtigen Ausschuss, mit einem Pro und Raju Sharma, religionspolitischer Sprecher und Mitglied im Rechtsausschuss, mit einem Contra zur religiösen Beschneidung von Jungen
 

Der Bundestag hat in der vergangenen Woche zwei Gesetzentwürfe zur Beschneidung von Jungen diskutiert. Sowohl der Entwurf der Bundesregierung als auch ein Gegenentwurf werden jeweils von Abgeordneten über die Grenzen aller Fraktionen unterstützt. Warum unterstützen Sie welchen der beiden Entwürfe?

Christine Buchholz: Das Urteil des Kölner Landgerichtes vom Mai diesen Jahres erklärt religiös motivierte Beschneidung bei Jungen für strafbar. Dadurch wird ein Ritus kriminalisiert, der für die Mehrheit der Muslime und Juden in Deutschland identitätsstiftend ist. Das hat bei den Betroffenen große Bitterkeit hervorgerufen, Eltern, beschnittene Jugendliche und Ärzte verunsichert, und es hat eine öffentliche Debatte provoziert, in der jüdischen und muslimischen Eltern Misshandlung ihrer Söhne vorgeworfen wird. Ich unterstütze den  Gesetzentwurf der Bundesregierung. Er ist nach dem Kölner Urteil notwendig geworden, um Juden und Muslimen in Deutschland zu signalisieren: Ihr und Eure Religion, wie ihr sie auslebt, seid Teil dieser Gesellschaft.

Raju Sharma: Das Kölner Landgericht hat auf Grundlage der bestehenden Gesetze für Recht erkannt, dass die rein religiös motivierte Beschneidung eines vierjährigen Jungen rechtswidrig war. Doch anstatt danach allen Beteiligten, insbesondere den betroffenen Religionsgemeinschaften, die Zeit zu geben, sich sorgfältig mit den Folgen des Urteils auseinanderzusetzen, hat der Bundestag nach einer hektischen Sondersitzung die Bundesregierung aufgefordert, schnell einen Gesetzentwurf zur Legalisierung religiös motivierter Beschneidungen vorzulegen. Das konnte nicht gut gehen. Der Entwurf der Bundesregierung ordnet staatliches Recht religiösen Geboten unter. Ich unterstütze dagegen den Alternativentwurf, der sich konsequent am Kindeswohl orientiert und die unterschiedlichen Interessen angemessen berücksichtigt.

Warum sollen jüdische und muslimische Gläubige nicht das weiter tun dürfen, was sie seit Jahrhunderten tun?

Raju Sharma: Es ist nicht Aufgabe des Staates, Religionsgemeinschaften vorzuschreiben, wie sie ihren Glauben ausüben. Aber der Staat muss einen gesetzlichen Rahmen vorgeben, der für alle gleichermaßen gilt. Deutschland hat vor über 20 Jahren die UN-Kinderrechtskonvention unterzeichnet und in der Folge in vielen gesetzlichen Bestimmungen klargestellt, dass Kinder nicht mehr nur Erziehungsobjekte ihrer Eltern, sondern Träger eigener Rechte sind. Dieses - veränderte - Rechtsverständnis war Grundlage der Kölner Entscheidung. Die Religionsgemeinschaften müssen selbst entscheiden, wie sie ihre religiösen Rituale so gestalten, dass sie im Einklang mit der staatlichen Rechtsordnung stehen.

Immer wieder gab und gibt es Traditionen, die sich überlebt haben. Wieso darf das Ritual der religiösen Beschneidung im Kindesalter nicht infrage gestellt werden?

Christine Buchholz: Natürlich darf das Ritual der Beschneidung infrage gestellt werden. Ich bin aber dagegen, das es unter Strafe gestellt wird. Damit würde die umstrittene Meinung eines Teils der medizinischen Zunft in Deutschland zum Maßstab über die religiöse Praxis von Muslimen und Juden in Deutschland gemacht werden. Gerade weil die Beschneidung für den jüdischen und muslimischen Glauben eine so wichtige Rolle spielt, wird sie auch nicht einfach verschwinden, nur weil das der Gesetzgeber will. Vielmehr werden Eltern ins Ausland gehen, gegebenenfalls Komplikationen nicht mehr melden - aus Angst vor Strafverfolgung.
Wenn es eine Änderung der religiösen Praxis geben soll, dann muss sie aus dem Judentum und dem Islam selbst kommen. Aber ein erhobener Zeigefinger aus der Mehrheitsgesellschaft ist hier völlig fehl am Platze.

Das sehen Sie vermutlich anders.

Rau Sharma: Das Ritual wird durchaus in Frage gestellt: Weltweit gibt es gläubige Juden, die sich für eine Abkehr oder zumindest für eine Veränderung der Brit Mila hin zu einer symbolisch-schmerzlosen Brit Shalom einsetzen. Allerdings trauen diese Menschen sich aus Angst vor gesellschaftlicher Ausgrenzung oft nicht, mit ihrem Wunsch an die Öffentlichkeit zu gehen. Deshalb bin ich dem Generalsekretär des Zentralrats der Juden, Stephan Kramer, sehr dankbar, der vor wenigen Wochen öffentlich eine Diskussion über dieses Ritual innerhalb seiner Religionsgemeinschaft eingefordert hat.

Keine Beschneidung - egal ob medizinisch oder religiös begründet - kann rückgängig gemacht werden. Was sagen Sie einem Mann, der keinem Glauben folgt und sich fragt, mit welchem Recht ihm als Kind seine Vorhaut entfernt wurde?

Christine Buchholz: Die übergroße Mehrheit beschnittener Männern, die ich in den letzten Monaten gesprochen habe, bedankte sich bei mir, dass ich mich gegen die Kriminalisierung von Beschneidung und die Stigmatisierung von Beschnittenen einsetze. Das gilt für fromme wie säkulare Juden und Muslime. Die Fälle derer, die ihre Beschneidung bereuen, sind zumeist als Grundschulkinder oder in der frühen Pubertät aus medizinischen Gründen beschnittenen worden. Ich kann absolut nachvollziehen, dass sie - auch angesichts des gesellschaftlichen Umfelds, in dem sie leben -, ihre Beschneidung und deren Folgen als problematisch erleben. Man muss aber auch zur Kenntnis nehmen, dass es keine relevante innerjüdische oder innermuslimische Bewegung gegen Beschneidung gibt. Im Gegenteil: Gegen das Kölner Urteil initiierten muslimische und jüdische Jugendliche aus Berlin eine Internet-Petition, die 500 Personen unterzeichnet haben. Sie befürchten, dass ihre Rechte beschnitten werden.

Sehen Sie nicht die Gefahr, dass durch ein Verbot frühkindlicher Beschneidungen diese künftig illegal und in der Folge unfachmännisch vorgenommen werden?

Raju Sharma: Um mit einem weit verbreiteten Missverständnis aufzuräumen: Keiner der eingebrachten Gesetzentwürfe sieht ein neues Verbot von Beschneidungen vor. Jede Beschneidung ist tatbestandlich zunächst eine Körperverletzung und insofern bereits heute grundsätzlich verboten. Worüber wir derzeit diskutieren, sind die Voraussetzungen, unter denen medizinisch nicht erforderliche Beschneidungen von Jungen zukünftig erlaubt sein sollen. Auch der Regierungsentwurf fordert einen fachmännischen Eingriff - allerdings erst bei Kindern über sechs Monaten. Kinderärzte, -urologen, -chirurgen und -anästhesisten sind sich jedoch darin einig, dass eine Beschneidung von Säuglingen ohne medizinische Notwendigkeit schon wegen der Narkoserisiken unverantwortlich ist.

Worin liegt der Unterschied in der religiösen Beschneidung von Jungen und Mädchen?

Christine Buchholz: Es gibt keine religiöse Beschneidung von Mädchen in Deutschland. Das, was hier weibliche Beschneidung genannt wird, ist Genitalverstümmelung und in keiner Weise vergleichbar. Um es plastisch zu machen: Die Entfernung der Klitoris entspräche der Entfernung der Eichel. Niemand, der sich für das Recht auf Beschneidung einsetzt, will die weibliche Genitalverstümmelung legalisieren. Mit dem Versuch, beides gleichzusetzen, haben einzelne Akteure in der öffentlichen Debatte bewusst Stimmung gemacht und versucht, die Diskussion zu emotionalisieren.

Warum tut sich die bundesdeutsche Öffentlichkeit so schwer mit dieser Debatte?

Christine Buchholz: Ich unterstelle weder Raju Sharma noch den anderen Unterstützern des alternativen Gesetzesentwurfs Antisemitismus oder antimuslimischen Rassismus. Aber sie müssen sich damit auseinandersetzen, dass ein Verbot der Beschneidung unter 14 Jahren genau diejenigen stigmatisiert und kriminalisiert, die Opfer von Rassismus sind. Ich bleibe dabei: Das Kölner Urteil steht in einem Zusammenhang mit dem seit gut zehn Jahren erstarkenden antimuslimischen Rassismus und eines latenten Antisemitismus in unserer Gesellschaft. Wenn man für die Religionsfreiheit und eine multikulturelle und multireligiöse Gesellschaft ist, kann man nicht sagen: Aber ihr müsst Euch so verhalten, wie es die Mehrheitsgesellschaft tut. Für mich ist der Gedanke, dass Deutschland das erste Land ist, in dem Beschneidung von Jungen aus religiösen Gründen verboten ist, unvorstellbar.

Raju Sharma: Die rituelle Beschneidung von Jungen hat in der jüdischen und muslimischen Religionsausübung eine sehr lange Tradition. Zum Teil wird sie auch als konstitutiv für den Glauben betrachtet. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass Vertreter dieser Glaubensgemeinschaften sich öffentlich Sorgen machen, wenn die Rechtmäßigkeit dieses Rituals infrage gestellt wird. Es ist auch richtig, dass die Debatte - speziell vor dem Hintergrund der Shoa - in Deutschland besonders sensibel und verantwortungsbewusst geführt werden muss. Das gelingt leider nicht allen. Manche heftige Leserkommentare werden allerdings auch durch die mangelnde Offenheit und fehlende Sensibilität von Meinungsführern in Politik und Medien provoziert, die sich frühzeitig und einseitig für eine weitgehende Legalisierung von Beschneidungen ausgesprochen haben, ohne die Argumente der Kritiker angemessen zu berücksichtigen.

Der Bundestag trifft in Kürze eine Entscheidung. Egal, wie diese auch ausfallen wird: Welche Lehre müssen die politisch Verantwortlichen aus der Debatte der zurückliegenden Monate ziehen?

Christine Buchholz: Wer sind die politisch Verantwortlichen? Ich will lieber über uns, DIE LINKE, reden. Die Debatte zeigt, dass es in der Gesellschaft, aber auch in der LINKEN eine Diskussion über das Verhältnis zur Religion geben muss. Religionsfreiheit heißt nicht, dass ich die Glaubensinhalte und -praxis von Religionen richtig finden muss. Aber es heißt, sie zu tolerieren und ihre Rechte zu verteidigen. Nur so schaffen wir eine Gesellschaft, in der kein Kind stigmatisiert wird - ob es beschnitten ist oder nicht.

Raju Sharma: Alle Rednerinnen und Redner haben festgehalten, dass sie das jüdische und muslimische Leben hier in Deutschland achten und als kulturelle Bereicherung schätzen. Das war gut und wichtig, und es war gut, dass die Debatte im Bundestag kultiviert und sensibel geführt worden ist. Dennoch hätte ich mir im Sinne einer ausgewogenen Diskussion nicht nur mehr Offenheit und Sachlichkeit gewünscht, sondern auch, dass die Betroffenen selbst zu Wort kommen, nämlich Männer, die als Kinder in ihre Beschneidung nicht einwilligen konnten und die bis heute darunter leiden. Unabhängig vom Ausgang des Gesetzgebungsverfahrens und eventueller weiterer Gerichtsentscheidungen, wird die Diskussion weitergehen. Dazu wünsche ich allen Beteiligten die notwendige Ruhe, die dieser Debatte bisher insgesamt leider gefehlt hat.

linksfraktion.de, 28. November 2012