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»Praxisgebühr war in jeder Hinsicht ein Holzweg«

Im Wortlaut von Martina Bunge, Harald Weinberg,

Kommentar zur Diskussion um die Praxisgebühr

Von Martina Bunge, gesundheitspolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag, und Harald Weinberg, Obmann der Fraktion im Gesundheitsausschuss

 


Weil Ihr krank seid, zahlt Ihr mehr. Selbst schuld, was werdet Ihr auch krank. Das sind die Botschaften, die mit der Praxisgebühr an alle Kranken und alle Menschen mit geringem Einkommen in diesem Lande gesendet werden. Diese Signale sind falsch und daher muss die Praxisgebühr weg.

Eine große Mehrheit von SPD, Grünen und CDU/CSU hat die Praxisgebühr im Jahr 2004 eingeführt. Die Befürworterinnen und Befürworter sprachen von Einspareffekten, indem so genannte unnötige Arztbesuche vermindert würden. Das konnte nie funktionieren. Denn die Entscheidung, ob ein Arztbesuch nötig oder unnötig ist, sollen demnach die Versicherten treffen. Versicherte, die zum Arzt gehen, sind aber in der Regel medizinische Laien, die Symptome haben und sich Sorgen machen. Gesetzlich Versicherte sollen mit der Praxisgebühr gezwungen werden, zu entscheiden, ob ihre Symptome einen Arztbesuch erfordern oder nicht. Das muss zu Fehleinschätzungen führen. Zumal der Anreiz oder Zwang zu entscheiden, ob ein Arztbesuch notwendig ist, mit sinkendem Einkommen steigt. Während eine Gutverdienerin, trotz 10 Euro Einlassgebühr zur Ärztin oder zum Arzt geht, hat eine Hartz IV-Beziehende am Ende des Monats oft gar keine Wahl, als den Arztbesuch aufzuschieben. Ebenso trifft es Studierende mit wenig Geld in der Tasche, die über ihre Symptome entscheiden sollen, was nicht immer gut geht.

So hat die Praxisgebühr genau das erreicht, was immer absehbar war: Menschen mit geringem Einkommen gehen wegen der Praxisgebühr trotz Beschwerden nicht rechtzeitig zum Arzt beziehungsweise zur Ärztin oder verzichten ganz auf eine Behandlung. Verschleppte Krankheiten bedeuten für die Betroffenen große, vermeidbare Belastungen und verursachen hohe Folgekosten.

Versicherte mit höherem Einkommen ärgern sich vielleicht über die Gebühr, gehen aber trotzdem zu Ärztin oder Arzt. Die Praxisgebühr führt damit zur ungleichen Gesundheitsversorgung zwischen Arm und Reich und ist ein Baustein der Zwei-Klassen-Medizin in Deutschland.
Wer krank ist, besonders wer chronisch krank ist, erleidet zahlreiche Nachteile. Abgesehen von der beeinträchtigten Lebensqualität, sinkt bei Kranken infolge der Erkrankung oft das Einkommen und letztlich die Lebenserwartung. Die Kranken auch noch mehr für die Gesundheitsversorgung bezahlen zu lassen, schiebt ihnen die Schuld für ihre Krankheit zu. Die Praxisgebühr untergräbt so die Solidarität zwischen den Gesunden und den Kranken.

Die Praxisgebühr führt zudem zur Entsicherung der Krankenversicherung, denn die Versicherten tragen nun einen Teil des Risikos einer Krankheit selbst. Die Gesellschaft wird aus der Pflicht genommen, für gesunde Arbeits- und Lebensbedingungen zu sorgen und die gesundheitliche Ungleichheit zu verringern. Es muss aber in die umgekehrte Richtung gehen. Die gesellschaftliche Verantwortung für die Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger muss durch eine gesundheitsförderliche Gesamtpolitik und umfassende Gesundheitsförderung und Prävention wahrgenommen werden, statt Krankheitsrisiken zu individualisieren.

Die Praxisgebühr war in jeder Hinsicht ein Holzweg. Das Einzige, was sie erreicht hat, ist es, die gesunden Beitragszahlerinnen und -zahler, insbesondere die Arbeitgeber, von Beiträgen zu entlasten. Stattdessen zahlen die Kranken jedes Jahr 2 Milliarden Euro. Seit Einführung der Gebühr haben kranke Menschen 16 Milliarden zusätzlich bezahlt und damit de facto deutlich mehr als die derzeitigen Überschüsse im Gesundheitsfonds aufgebracht. Schäubles Griff nach dem Geld aus dem Gesundheitsfonds ist so auch ein Diebstahl am Geld der Kranken. Statt einer Gesundheitspolitik nach Kassenlage muss der aktuell günstige Zeitpunkt genutzt werden, um die Praxisgebühr endlich abzuschaffen.

Die FDP springt medienwirksam auf diesen Zug auf und fordert die Abschaffung der Praxisgebühr. Allerdings nur, weil sie an der Leine der CDU/CSU hängt, die an der Praxisgebühr festhält. Dadurch lässt es sich leicht bellen, ohne in die Gefahr zu kommen, handeln zu müssen. Die Union hingegen kann nicht ein einziges Argument für die Praxisgebühr vorbringen. Sie will mit einer Reform der Praxisgebühr der Ärzteschaft den Aufwand beim Einzug ersparen, aber weiter an das Geld der Kranken. Das zeigt deutlich, der Union geht es um alles andere als um die geringverdienenden Kranken.

linksfraktion.de, 13. März 2012