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Politikwechsel statt Kaffeekränzchen

Im Wortlaut von Sevim Dagdelen,

Von Sevim Dagdelen

Auch der vierte Integrationsgipfel war eine Alibiveranstaltung mit Fototermin für die Kanzlerin und ihre Regierung. Redet die Bundesregierung über vermeintliche "Integrationsverweigerer", findet sie nicht nur viele Worte, sondern handelt mit Beschlüssen für weitere Sanktionen bei Migranten. Geht es um den Abbau von sozialen und rechtlichen Benachteiligungen und Diskriminierungen, fehlen ihr die Worte und die Taten. So redet die Bundesregierung vom Schutz der Frauenrechte hinsichtlich Zwangsverheiratungen, erhöht aber gleichzeitig die Ehebestandszeit von zwei auf drei Jahre, wodurch Frauen ein Jahr länger in einem ehelichen Gewaltverhältnis ausharren müssten. Sie redet von Spracherwerb, kürzt aber bei Integrationskursen. Sie redet von Bildung, hält aber an dem besonders für Migranten ausgrenzenden mehrgliedrigen Schulsystem fest. Sie redet von ´Integration vor Ort´, der integrativen Stadtteilarbeit im Rahmen des Programms ´Soziale Stadt´ wird jedoch das Geld gekürzt. Es wird von Teilhabe geredet, Einbürgerungen aber werden verhindert und ein kommunales Wahlrecht für Drittstaatsangehörige abgelehnt. Sie redet vom Fachkräftemangel, ein Rechtsanspruch auf die Anerkennung von im Ausland erworbenen Abschlüssen aber wird nicht sichergestellt und eine Ausbildungsplatzumlage und die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns als Voraussetzung für Berufsabschlüsse und die Verhinderung von Lohndumping will die Bundesregierung jedoch nicht.

Wortreich und mit diskriminatorischem Tatendrang dagegen erfolgte das "warm up" für den Gipfel im Schatten der rechtspopulistischen Kampagnen von Sarrazin bis Gabriel in den letzten Wochen. Zwar distanzierten sich die meisten Politiker von den Aussagen Sarrazins, stießen dann aber in das selbe Horn. Die hegemoniale Politik entdeckte sogenannte "Integrationsunwillige" als drängendes Problem. Nach Bundesinnenminister de Maizière (CDU) gehören geschätzte "10 bis 15 Prozent" der Migranten zu diesen. Die Zahl wurde zwar später von ihm relativiert, doch je größer die Lüge, umso nachhaltiger ihr Wirken. "Es gibt Sanktionen und die müssen greifen. Strenge ist wichtig", forderte dann auch Kanzlerin Merkel. SPD-Chef Gabriel meinte, wer "auf Dauer alle Integrationsangebote ablehnt, der kann ebenso wenig in Deutschland bleiben wie vom Ausland bezahlte Hassprediger in Moscheen". Knapp eine Woche vor dem Integrationsgipfel folgten dann die Taten. Die Bundesregierung beschloss Maßnahmen zur strikteren Kontrolle und Sanktionierung von Integrations(kurs)verweigerung. Dabei hat die Bundesregierung bis heute keinerlei Erkenntnisse zur Nichtteilnahme an Integrationskursen und zu möglichen Gründen hierfür.

Wer landauf und landab gegen angebliche Integrationsverweigerer polemisiert und ständig härtere Sanktionen fordert, wie es Regierungspolitiker derzeit tun, kann sich auch derartige integrationspolitische Kaffeekränzchen im Kanzleramt sparen. Was wir brauchen, ist ein grundlegender Politikwechsel. Weg vom neoliberalen Nützlichkeitsdenken und dem Verwertungsinteresse des Kapitals, hin zur sozialen Teilhabe aller. Davon ist die Bundesregierung weit entfernt. Zu Lasten der Menschen in Deutschland. Mit und ohne Migrationshintergrund.

unsere zeit, 12.11.2010