Zum Hauptinhalt springen
Dietmar Bartsch © Marc DarchingerFoto: Marc Darchinger

Out of Würselen

Im Wortlaut von Dietmar Bartsch, The European,

Kolumne von Dietmar Bartsch in The European

 

„Die heutigen politischen und sozialen Zustände sind im höchsten Grade ungerecht und daher mit der größten Energie zu bekämpfen.“ Und: „Leistung muss sich wieder lohnen“. Das sind keine Zitate von Martin Schulz. Der erstgenannte Satz steht im Eisenacher Programm der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei von 1869, mit dem zweiten zog die CDU 1982 in den Wahlkampf gegen die SPD-geführte Bundesregierung.

Es gehe ein tiefer Riss durch unsere Gesellschaft und er wolle, dass es gerechter zugeht, sagt heute Martin Schulz. Ich kann es nur gutheißen, wenn der designierte Parteichef und Spitzenkandidat Traditionen aufgreift, die – freundlich gesagt – für die SPD nicht immer im Zentrum standen. Der Unions-Slogan klingt bei Schulz so: „Mir ist wichtig, dass wir die hart arbeitenden Menschen, die sich an die Regeln halten …, in den Mittelpunkt unserer Politik stellen.“

Wenn sich Martin Schulz sozialer Gerechtigkeit verpflichtet fühlt und für Frieden, Demokratie und Solidarität eintritt, kann er auf die Unterstützung der LINKEN zählen. Ebenso, wenn er für gleiche Bildungs- und Karrierechancen wirbt und den Blick für die Sorgen der Kommunen schärfen will.

Noch lässt Martin Schulz vieles im Vagen. Zu vieles. Wie kommen Löhne und Profite in ein ordentliches Verhältnis? Wo soll es mit Mindestlohn und Rente hingehen? Wie soll jenen Gerechtigkeit widerfahren, die wegen Arbeitslosigkeit, Krankheit oder Handicap nicht ins Schulz’sche Schema der „hart Arbeitenden“ passen? Welche Strategie wird bei der Digitalisierung, bei Crowd- und Cloudworking verfolgt? Wie soll der Sozialstaat wieder hergestellt werden, der Erwerbslose nicht zu Bittstellern degradiert und mit stets neuen Sanktionen bedroht? Wie und wann kommt es endlich zu einer Umverteilung von oben nach unten? Und schließlich: Was soll Deutschlands Rolle in der Welt sein? Sollen Rüstungsexporte und Auslandseinsätze so weiter gehen? Bleibt es bei der Knebelung Griechenlands und den Sanktionen gegen Russland? Was können Deutschland und die EU gegen Fluchtursachen tun? Welchen Beitrag leistet unser Land für die Umwelt und das Klima?

Kleiner ist der Katalog nicht zu haben, eher zu erweitern. Den Nimbus des Neuen wird das dienstälteste SPD-Präsidiumsmitglied auf Dauer nicht für sich reklamieren können. Martin Schulz agiert jetzt als Anführer der “außerparlamentarischen Opposition” gegen eine Bundesregierung, der die SPD angehört. Da die in 16 der vergangenen 20 Jahre in Regierungsverantwortung war, ist sie mithin nicht unschuldig am Zustand der Republik. Nicht weniges von dem, was Schulz jetzt fordert oder verkündet, hätte im Bundestag bereits beschlossen werden können, z.B. das Aus der sachgrundlosen Befristung von Arbeitsverhältnissen oder die Ehe für alle. Ein sofortiges Verbot von Kleinwaffenexporten oder der Abzug der US-Atomwaffen aus Deutschland wären wichtige Zeichen in einer aus den Fugen geratenen Welt. Eine tatsächliche Reform der Erbschaftsteuer könnte ein Baustein für eine gerechtere Gesellschaft sein.

Alles ungenutzte Chancen angesichts der Mehrheiten im Bundestag. Doch nach der Wahl 2013 entschied sich die SPD bewusst gegen ein mögliches Mitte-Links-Bündnis. Unter anderem deshalb interessiert mich, ob Schulz nach dem 24. September 2017 die Fortsetzung einer Koalition von Union und SPD ausschließt oder nicht.
Agenda 2010 ohne Opposition

Als Gerhard Schröder und Katrin Göring-Eckardt im Jahr 2003 die Agenda 2010 im Deutschen Bundestag begründeten, gab es dort keine Oppositionsfraktion links der SPD.

Die CDU verordnete sich auf ihrem Leipziger Parteitag ein marktradikales Programm. Fortan war von politischer Alternativlosigkeit die Rede, so unlogisch wie verhängnisvoll. Vergebens hatte die fraktionslose PDS-Abgeordete Gesine Lötzsch im Bundestag appelliert: „Es gehört kein Mut dazu, die Schwächsten in der Gesellschaft unter Druck zu setzen. Sie sollten endlich den Mut haben, sich mit den Mächtigen in dieser Gesellschaft auseinander zu setzen.“ Die PDS, später DIELINKE, nannte die Hartz-Gesetze „Armut per Gesetz“ und kämpfte fortan gegen prekäre Beschäftigung, Niedriglohn, Rentenkürzungen, Studien- und Praxisgebühren, Kinderarmut, Mietwucher, Obdachlosigkeit und andere soziale Grausamkeiten. Sehr zum Verdruss der SPD und der meisten Gewerkschaften forderte sie einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn. Es sollte über ein Jahrzehnt dauern, ehe der – zwar zu niedrig – beschlossen wurde und sich Andrea Nahles damit schmückte. Ein nächster dringlicher Schritt wäre die zügige Erhöhung des Mindestlohnes auf 12 Euro, auch, um Altersarmut entgegen zu wirken.

Nach der Wahl 2017 geht es auch um einen Personalwechsel im Bundeskabinett. Mit Martin Schulz rüttelt wieder einer am Zaun des Kanzleramtes. Vor allem aber steht ein Politikwechsel auf der Tagesordnung. Der erscheint möglich und er wird an der LINKEN nicht scheitern. Mehr noch: Nur DIELINKE wird nicht nur für neues Personal im Fahrerstand, sondern darueberhinaus auch dafür sorgen, dass der Zug in eine andere Richtung fährt. Dafür braucht sie viele Stimmen. Dafür werbe ich, ohne Kompromisse.

Martin Schulz sollte Klartext reden. Im Netz kursiert eine Anekdote: Als der fußballbesessene Schüler wieder einmal das Kicken den Hausaufgaben vorgezogen hatte, soll er den geforderten Aufsatz fließend aus dem leeren Heft „vorgelesen“ haben. Heute kann er eine schwammige Programmatik brillant darbieten. Im Kultfilm „Out of Rosenheim“ hielt sich Marianne Sägebrechts Jasmin mit Witz und Magie über Wasser. Out of Würselen wird das nicht reichen.

The European,