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Niedriglöhne im Osten erhöhen Gefahr der Altersarmut

Periodika,

Am frühen Morgen des 10. August ziehen rund 100 Beschäftigte eines großen deutschen Molkereikonzerns durch Erfurts Innenstadt. Ihre gelben Warnwesten leuchten in der Morgendämmerung, sie schwenken Fahnen und geben mit ihren Trillerpfeifen ein lautstarkes Konzert. Seit 5.30 Uhr bestreiken sie ihr Werk, in dem unter anderem Mascarpone und Sahne hergestellt wird. Ihr Motto prangt auf dem Fronttransparent: »Gute Arbeit – Gerechter Lohn – Sonst wird nicht nur die Milch sauer«.

In diesem Pulk marschieren auch Anke Bendixen und Dietmar Fuchs mit. Die 52-Jährige arbeitet in der Verwaltung. Er hat früher als Anlagenfahrer gearbeitet, heute ist der 62-Jährige freigestellter Betriebsrat. Beide sind erbost über die Konzernführung: Die rund 320 Beschäftigten in Thüringens Landeshauptstadt sollen eine geringere Lohnerhöhung erhalten als ihre Kolleginnen und Kollegen im Westen, die dieselbe Arbeit machen. »Diese Unterschiede sind im Jahr 2017 eine Schande«, sagt Anke Bendixen, »aber wir wollen uns nicht abhängen lassen.«

 

»Das ist ein Politikum«

Mehr als ein Vierteljahrhundert nach der Wende erhalten Beschäftigte in Ostdeutschland nach wie vor deutlich weniger Lohn als ihre Kolleginnen und Kollegen im Westen. Die Ostlöhne liegen bei 82 Prozent des Westniveaus. Sie sind also rund um ein Fünftel niedriger. Umgerechnet auf den Lohn pro Stunde ist der Unterschied noch deutlicher: Der Stundenlohn im Osten beträgt nur rund 77 Prozent des Stundenlohns im Westen. Um genauso viel Lohn zu erhalten wie Werktätige im Westen, müssten Beschäftigte im Osten 39 Tage länger arbeiten. Das entspricht fast zwei Monaten zusätzlicher Arbeit pro Jahr.

Der Entgeltatlas der Bundesagentur für Arbeit zeigt, wie krass diese Unterschiede bei einzelnen Berufsgruppen sind. Bei Pflegekräften und Verkäuferinnen beträgt die Differenz im Mittel rund 300 bis 550 Euro pro Monat, bei Automechanikern liegt der Unterschied bei mehr als 800 Euro, bei Maschinenbaumechanikern sogar bei mehr als 900 Euro im Monat (siehe Tabelle).

Die Lohnunterschiede zwischen Ost und West kennt auch Jens Löbel von der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG), der die Erfurter Kolleginnen und Kollegen bei ihrem Arbeitskampf unterstützt hat. Im Molkereiwerk in Erfurt erhalte ein Facharbeiter 16,70 Euro pro Stunde, an vielen Standorten in Nordrhein-Westfalen seien es knapp 18,30 Euro. Eine Differenz von fast 10 Prozent. »Das ist ein Politikum«, sagt er.

Die Gründe für die Lohndifferenz sind vielfältig. Im Osten ist nur rund jeder fünfte Betrieb (22 Prozent) an Tarifverträge gebunden, im Westen ist es fast jeder dritte (31 Prozent). Die Arbeitslosenquote betrug im Oktober 2016 im Osten 7 Prozent, im Westen nur 5 Prozent. Die Folge: Im vergangenen Jahr pendelten mehr als 400 000 sozialversicherungspflichtige Beschäftigte vom Osten in den Westen. Das entspricht einem Anteil von 6,6 Prozent. Der Anteil der Berufstätigen, die in den alten Bundesländern lebten und in den neuen arbeiteten, betrug hingegen lediglich 0,6 Prozent.

Die niedrigen Löhne von heute führen morgen zu Altersarmut. Deshalb wächst diese Gefahr im Osten besonders stark. Im Osten ist der durchschnittliche Rentenanspruch nach 35 Jahren Berufstätigkeit in den Jahren 2000 bis 2016 bei den langjährig Versicherten, die neu in Rente gingen, von 1.016 Euro auf 826 Euro gesunken – ein Minus von 18,7 Prozent. Auch die durchschnittliche Erwerbsminderungsrente bei Neurentnerinnen und -rentnern ist im selben Zeitraum gefallen: von 740 auf 704 Euro. Sie liegt damit aktuell unter dem durchschnittlichen Niveau der Grundsicherung im Alter.

 

Tiefe Kluft auch bei den Renten

Hinzu kommt, dass die Renten in Ost und West unterschiedlich berechnet werden. Im Osten ist ein Entgeltpunkt, der für die Berechnung der Rente entscheidend ist, nur 29,96 Euro wert, im Westen dagegen 31,03 Euro. Das führt dazu, dass Versicherte, die 45 Jahre lang eingezahlt haben, im Osten durchschnittlich 81 Euro weniger Rente pro Monat bekommen als im Westen. Dass die Renten unterschiedlich berechnet werden, wurde vor mehr als 25 Jahren im Einigungsvertrag zwischen BRD und DDR festgelegt. Geplant war, dass sich Löhne und Gehälter – und mithin auch die Renten – im Laufe der Zeit annähern. Durch die aktuelle Rentengesetzgebung werden die Rentnerinnen und Rentner im Osten denselben Rentenwert wie im Westen erst im Jahr 2024 erhalten. Und das ist nur ein halber Schritt, denn angleichen müssten sich endlich auch die Löhne und Gehälter. Seit Mitte der 1990er Jahre kommt ihre Angleichung nicht mehr voran. Die Kluft zwischen den Renten in den neuen und alten Bundesländern wird sich also zementieren, wenn nicht endlich gegengesteuert wird.

Immerhin: Der Arbeitskampf der Beschäftigten des Erfurter Molkereiwerks war erfolgreich. Nach dem achtstündigen Streik stockt die Konzernführung ihr Angebot auf. Die Beschäftigten in Erfurt erhalten fortan beinahe dieselbe Lohnerhöhung wie Beschäftigte in den alten Bundesländern. Ab dem nächsten Jahr 0,45 Euro zusätzlich pro Stunde. Auch für Auszubildende und bei der betrieblichen Altersvorsorge konnte die Belegschaft Verbesserungen erkämpfen. »Der Streik hat gesessen«, meint Betriebsrat Dietmar Fuchs, »alle Anlagen standen still.« Auch Anke Bendixen ist mit dem Ergebnis zufrieden. NGG-Gewerkschaftssekretär Jens Löbel macht der Belegschaft ein Kompliment: »Ich bin stolz darauf, dass die Kolleginnen und Kollegen deutlich gemacht haben: Die Zeit der Bittstellerei ist beendet!«

Ruben Lehnert