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»Nichts gehört der Vergangenheit an«

Nachricht,

Szenische Lesung zu 50 Jahren Auschwitz-Prozess

 

Foto: © Uwe Steinert

Von Gisela Zimmer

 

Der Abend beginnt mit einem Zitat: „Nichts gehört der Vergangenheit an. Alles ist Gegenwart und kann wieder Zukunft werden.“ Dieser Satz hat viele Jahrzehnte auf dem Buckel und klingt doch wie einer aus der Jetzt-Zeit. Fritz Bauer hat ihn uns hinterlassen. Fritz Bauer, Generalstaatsanwalt in Hessen, der Mann, der vor 50 Jahren den Auschwitzprozess vor dem Landgericht Frankfurt am Main im August 1965 zu Ende brachte, nach 20 Verhandlungsmonaten und 183 Verhandlungstagen. Dieser Prozess ist in die Geschichte eingegangen. Fritz Bauer dagegen scheint vergessen. Luc Jochimsen, sie war von 2005 bis 2013 Bundestagsabgeordnete der Linksfraktion, hat ihn jedoch nie vergessen. Im Gegenteil, er war „Vorbild“ für sie: „Eines der wenigen, die es gab im Nachkriegs- und Wiederaufbau-Deutschland“. Und so nahm die Publizistin das halbe Jahrhundert nach dem Auschwitzprozess zum Anlass, um an Fritz Bauer zu erinnern, an die 1950er und -60er Jahre, auch daran, wie Verschweigen, Wegschauen und keinerlei Unrechtsbewusstsein „normal“ im damaligen Alltag waren. Luc Jochimsen suchte und fand Filmsequenzen, Akten, Prozessberichte, Briefe, Fotos und alte Tonaufnahmen von Fritz Bauer. Daraus entstand eine Collage, erstmals aufgeführt beim Fest der Linken, in der Kalkscheune in Berlin-Mitte, in einem bis auf den letzten Platz gefüllten Saal. Die Journalistin Jochimsen und der Schauspieler Rolf Becker fungierten als Erzähler, Fritz Bauer wurde gesprochen von Gregor Gysi, Michel Friedman schlüpfte in die Rolle des Richters, Hannes Heer war Ankläger, Jan Korte ein Zeuge. Die szenische Lesung dauerte eine Stunde, und was die Besucher zu sehen und zu hören bekamen, machte sie ganz still, so leise, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören.

Der optimistische Rückkehrer

Wer war dieser Fritz Bauer? Ein Kind jüdischer Eltern, geboren 1903 in Stuttgart. Mit 27 Jahren ist er 1930 der jüngste Amtsrichter der Weimarer Republik. Schon drei Jahre Jahre später wird er verhaftet, aus dem Amt gejagt. Bauer flieht, zunächst nach Dänemark, 1943 nach Schweden, dort arbeitet er mit Willy Brandt zusammen. Im April 1949 kehrt er zurück. Doch wohin? „Nach Stuttgart? Dort war sein Dienstherr von 1933, der ihn entlassen hatte, wieder Justizminister. Und über 80 Prozent der alten Staatsanwälte und Richter waren im CDU-regierten neuen Württemberg wieder auf ihren Posten. Die wollten keinen jüdischen, sozialdemokratischen Juristen unter sich.“ Und Fritz Bauer, was zog ihn zurück? „Ich bin zurückgekehrt, weil ich glaubte, … etwas vom Widerstandsgeist und Widerwillen der Emigration im Kampf gegen staatliches Unrecht mitbringen zu können. Schon einmal war die deutsche Demokratie zugrunde gegangen, weil sie keine Demokraten besaß. Ich wollte einer sein.“

Fritz Bauer war einer. Einer in Amtsrobe und beseelt davon, ein Jurist zu sein, „der dem Gesetz und Recht der Menschlichkeit und dem Frieden nicht nur Lippendienst leistet“. Sein großes Thema war der Unrechtsstaat der Jahre 1933 bis 1945. „Sich seiner zu erinnern, über ihn aufzuklären, seine Wurzeln zu erkennen – und vor allem sein Fortwirken.“ Sein vielleicht mutigster und größter Prozess begann im Dezember 1963. Es ging um 24 deutsche Männer, die sich wegen ihrer Verbrechen im größten Menschenvernichtungslager Auschwitz-Birkenau verantworten mussten. Darunter ein Lagerführer, SS-Ärzte, ein Apotheker, ein Sanitäter, zwei Adjudanten, Angehörige der politischen Abteilung der Lager-Gestapo. Keiner hielt sich für schuldig. Keiner entschuldigte sich.

Fritz Bauer wird später über diesen Auschwitzprozess sagen: „Die Bewältigung der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist gewiss nicht allein, auch nicht vorzugsweise eine Sache der Strafjustiz. Sie geht uns alle an.“

Das Vergangene und das Jetzt

Wer ist in diesem „alle“ eingeschlossen? Um diese Frage kreiste die sich anschließende Diskussion. Sie war prominent besetzt. Hannes Heer, Kurator der ersten Wehrmachtsausstellung, Michel Friedman, Rechtsanwalt und Publizist, Erado Cristoforo Rautenberg, Generalstaatsanwalt in Brandenburg und Deutschlands dienstältester Generalstaatsanwalt, Volkmar Schöneburg, Landtagsabgeordneter der Linken in Brandenburg und Justizminister a.D. und Jan Korte, Mitglied der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag und Autor zum Thema Rehabilitierung von Kriegsverbrechern. Es war eine Runde, wie sie nur noch sehr selten zu erleben ist: emotional, trotzdem sachlich, vor allem nie beschönigend. Von Kontinuitäten war die Rede, vom Bagatellisieren, politisch wie juristisch, vom nicht Hinsehen. Das Phänomen Rassismus, Rechtsextremismus gab es zu allen Zeiten, auch nach Ende des Zweiten Weltkrieges. Mit Sarrazin, Pegida, AfD sei die Enthemmung gestiegen und offener Rassismus „salonfähig“ geworden. Justiz allein könne das nicht bekämpfen, ihn aber eindeutig benennen und bestrafen. Ein Brandanschlag sei eben ein Brandanschlag und nicht nur eine „Sachbeschädigung“. Wer Unterkünfte von Asylbewerbern anzündet, begeht einen Mordversuch. Politikerinnen und Politiker müssen dort sein, wo andere bedroht werden, weil sie sich schützend vor Flüchtlinge stellen, vor Andersfarbigen oder anders gläubigen Menschen. Und zwar dort, wo es passiert, draußen auf den Straßen und Plätzen. Die Flüchtlinge aus allen Krisen- und Kriegsregionen seien die heutige Bewährungsprobe. Für die Wehrhaftigkeit unserer Zivilgesellschaft, für Europa, für die Demokratie. Denn „die Menschenwürde“, so Erado Rautenberg am Ende, „sei unantastbar“. Das war für Fritz Bauer so, und das gilt auch heute und in Zukunft. 

 

Fotostrecke auf Flickr

Textbuch der Lesung (PDF)

 

linksfraktion.de, 14. September 2015