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Neuer Chef im offenen Haus der Demokratie

Nachricht,

Bodo Ramelow wird erster linker Ministerpräsident in Deutschland

 

Von Frank Schwarz

 

Der Ministerpräsident Thüringens schaut lächelnd auf sein Handy, sagt „oh, schön“ oder „das ist aber lieb“ und „na schau mal an“. Bodo Ramelow liest unzählige Glückwünsche per SMS und Nachrichten auf Twitter nach seiner Wahl zum neuen Landesvater. Er sieht müde aus, wirkt dennoch gut gelaunt und gelassen. „Wenn mir das einer 1989 gesagt hätte, dass ich hier sitze und als Linker Ministerpräsident werden würde, den hätte ich für verrückt erklärt“, sagt Ramelow. Er hat keine Zeit, darüber jetzt weiter nachzudenken. Aber als er kurz innehält und das ihm bekannte Grinsen gepaart mit kurzem Kopfschütteln aufkommt, muss er wohl doch an einige Stationen seiner Karriere gedacht haben.

Die Biografie des neuen Regierungschefs ist vollkommen unvollkommen. Der Gerechtigkeitssinn gehört zu den ausgeprägten Eigenschaften, die in seiner Familie entstehen. Bodo Ramelow fackelt nicht lange, wenn er andere bedrängt sieht. Er lernt das harte Arbeiten als Kaufmann im Einzelhandel, steht auf Märkten, leitet eine Filiale einer Vertriebs GmbH in Marburg, lässt sich nicht unterkriegen und achtet immer darauf, dass es den Geschwistern und der Mutter gut geht. Als Gewerkschafter kommt er nach der friedlichen Revolution nach Thüringen und wird Landesvorsitzender der Gewerkschaft HBV. Es gibt für ihn ausreichend Gelegenheit, für die Interessen der Beschäftigten vieler Betriebe zu streiten. So legt er sich bei einem Streik der Fernfahrer für bessere Löhne vor einen 40-Tonner, um dessen Weiterfahrt zu verhindern. Die damalige PDS und auch die SPD werden auf den kampfeslustigen, konsequent agierenden Mann aufmerksam.

Jürgen Spilling gehört zu jenen Linken der PDS, die engagiert den Neuanfang nach der Wende 1989 vorantreiben, Fehler und Fehlleistungen der SED-Zeit kritisch benennen und für den künftigen Alltag linker Politik ausschließen. Spilling und Ramelow lernen sich bei verschiedenen Aktionen, Veranstaltungen und Diskussionen kennen und schätzen. „Bodo ist ein Typ, der mit seinen Ansichten und Inhalten zu uns passte. Nach einer langen Diskussion in seiner Küche war für ihn dann klar, dass die PDS am ehesten seine politische Heimat sein würde“, erzählt Spilling. Bodo, so berichtet der Weggefährte weiter, mochte und mag bis heute keine halben Sachen. Das ließ er schnell spüren und sorgte 1999 mit seinem Einzug in den Landtag für manche Schlagzeilen. Ramelow wird von Abgeordneten wegen seiner zuweilen charismatischen Präsenz als „Ein-Mann-Opposition“ bezeichnet, weil er oft schnell reagiert, dazwischenruft und in seinen Reden scharfzüngig die Regierungen attackiert. Eine Berliner Senatorin der Linken bezeichnet Ramelow als „politisches Alphatier“. Ramelow provoziert Kontrahenten gern, gehört zu den brillanten Rhetorikern und wird für Journalisten zum attraktiven, unterhaltsamen Gesprächspartner. Der Verfassungsschutz beobachtet Ramelow viele Jahre und muss nach einer Klage des linken Frontmannes vor dem Bundesverfassungsgericht schließlich damit aufhören.

Mit »Brilli« im Ohrläppchen und gegelter Haartolle wechselt Ramelow in den Bundestag und organisiert parallel zum Abgeordnetenalltag für die PDS die Fusion mit der WASG zur Partei DIE LINKE. „Mann, der Bodo war locker und trotzdem konsequent. Manchmal dachte ich, der hat Reißnägel gefressen“, erinnert sich Klaus Ernst an die Zeit erster Gespräche. Wo der Ramelow auftaucht, passiert immer etwas, sonst geht der nicht wieder. Wenn das Ergebnis nicht seinen Vorstellungen entspricht, kann der linke Protestant das auch spüren lassen. Leise Töne kamen dabei bislang nur selten auf.

Letzteres ist bei ihm seit der Landtagswahl im September nicht mehr zu beobachten. Ramelow hat dazugelernt, hört länger zu und lenkt eher ein. Er weiß: Als Mann mit großem Ziel muss er gelassener und noch souveräner werden. Das stellen die Koalitionspartner wohlwollend fest, und so werden die Verhandlungen trotz unterschiedlicher Positionen zum großen Teil in angenehmer Atmosphäre geführt. Bodo Ramelow kann sich auf ein kompetentes, ausgleichendes Team seiner Fraktion verlassen und verfolgt beharrlich das große Ziel. Thüringen zu verändern geht nicht ohne Kompromisse, aber es ist möglich.

Es mag ihm wohl wie der Olympiasieg eines Langläufers vorkommen, der ewig trainierte, unzählige Wettkämpfe bestritt und sich akribisch auf diesen einen Tag für das olympische Finale vorbereitet hatte. Verletzungen und Niederlagen ließen zwischenzeitlich den Erfolg in weiter Ferne ahnen, absehbar war er lange Zeit nicht. Auch kurz vor dem Ziel kam die Gefahr des Scheiterns auf. Es schien, als reiche die Kondition nicht oder die letzten Schritte würden an jenem Tag zu schwer. Nach dem Zieleinlauf blieb dem Sieger kaum mehr die Kraft zum Jubeln, und dennoch waren alle Anstrengungen plötzlich vergessen. So muss sich der geborene Niedersachse, Ex-Hesse, Ex-Gewerkschaftssekretär, Ex-Bundestagsabgeordnete und nun Ex-Oppositionsführer im thüringischen Landtag in jenem Augenblick gefühlt haben, als das Abstimmungsergebnis seiner Wahl zum Ministerpräsidenten bekannt gegeben wurde.

Bei seiner Vereidigung verzichtet der Protestant auf die abschließende Formulierung „So wahr mir Gott helfe“. Schon bei der Vereidigung eine Provokation? „Nein, überhaupt nicht. Ich bin gläubiger Christ, wollte aber so auf die Trennung von Staat und Kirche aufmerksam machen“, erläutert Ramelow. An Provokationen, die ihm aus dem konservativen Lager immer mal wieder vorgeworfen wurden, habe er als Ministerpräsident kein Interesse. Ramelow bemüht in seiner ersten Rede nach der Wahl das Rau-Zitat vom „versöhnen statt spalten“. Der frühere Bundespräsident und langjährige Ministerpräsident von NRW, Johannes Rau, hatte dies im Zusammenhang des Diskurses über das gemeinsame Leben in einer Gesellschaft gesagt.

Im Fraktionssaal der Linken im Erfurter Landtag steht ein voll bepackter Wagen mit Rotkäppchensekt. Auf den Etiketten steht „Auf den Wechsel“. Nach der Wahl füllt sich der leer geräumte Saal schnell und vom Sekt ist nach wenigen Minuten nichts mehr übrig. Linke, Grüne und Sozialdemokraten stoßen auf ein neues, fragiles Projekt an: die R2G-Koaltion. Rot-Rot-Grün wurde noch nie auf Landesebene in Deutschland regiert. Alle wissen, dass es Chancen und Risiken in gleichen Proportionen gibt, und niemand weiß, ob dieses Projekt das Haltbarkeitsdatum von fünf Jahren erreichen wird. Gegenwind ist Ramelow gewöhnt und er mag das auch. Es muss nur fair dabei zugehen. Mit den politischen, teilweise hilflosen Beschimpfungen kann er umgehen, auch wenn es dabei derb zugeht. Da wird Ramelow als „Top-Agent der Stasi-Connection“ bezeichnet und seine Wahl als „Tag der Schande“ gebrandmarkt. Es werde nun keine Planwirtschaft geben, das Kapital nicht die Flucht über den Rennsteig antreten. Die rhetorische Abrüstung im Unionslager sei überfällig, sagt Ramelow dazu.

Der Thüringer SPD-Chef Andreas Bausewein sieht die gemeinsame Regierungsarbeit auch als Neuanfang für seine Fraktion. „Wir werden koordiniert und konstruktiv miteinander arbeiten. Denn das Problem der letzten fünf Jahre war ja auch, dass keiner dem anderen etwas gegönnt hat.“ Dieter Lauinger, Spitzenmann der Grünen und neuer Justizminister, teilt sachlich mit, dass „wir den Beweis erbringen müssen, dass eine Koalition mit drei Partnern und einer Stimme Mehrheit funktioniert.“ Für die Linken im Bundestag ist die Wahl von Erfurt ein großes Ereignis. „Wir haben zur gleichen Zeit im Bundestag über Bedeutung und künftigen Umgang mit Meisterbriefen im Handwerk diskutiert. Diese Parallele zu Bodo sorgte für Heiterkeit in unserer Fraktion. Dann das Ergebnis im zweiten Wahlgang, Wahnsinn. Ich habe Klaus Ernst, der neben mir saß, so vor Freude in die Schulter geboxt, dass der wohl einen blauen Fleck an diesem Tag bekommen hat“, erzählt Petra Sitte, Parlamentarische Geschäftsführerin der Linksfraktion. Parteivorsitzende und Bundestagsabgeordnete Katja Kipping saß zur Zeit der Wahl im Auto und verfolgte das Geschehen am Radio. „Das ist alles unglaublich und ich gratuliere Bodo und den Thüringern. Das Macht-Abo der Union ist nun beendet.“

Die dicken grünen Sektflaschen mit dem roten Etikett im Fraktionssaal der Linken im Erfurter Landtag sind fast geleert, immer liegen sich Menschen in den Armen. „Das ist für uns noch nicht richtig greifbar. Da ist ein Tor aufgestoßen worden und nun haben wir es selbst in der Hand, dieses Land zu verändern“, sagt Susanne Henning-Welsow, die als Landesvorsitzende der Linken die Koalitionsverhandlungen maßgeblich führte und so manche Klippe überwinden half. Es hatte zwischenzeitlich einen neuralgischen Punkt gegeben, da drohte das gesamte Projekt R2G schon vor den Unterschriften zum Vertrag zu scheitern, weil die Grünen sich an einem für sie wichtigen Punkt nicht durchsetzen konnten. Dieser 19. November war die erste Belastungsprobe für das Dreierbündnis und endete mit einer zusätzlichen Portion Durchhaltevermögen, Diskussionen und fairem Umgang. „Ich möchte ausdrücklich Dank sagen an alle drei Fraktionen“, ruft Bodo Ramelow in die von Partystimmung geschwängerte Luft des Saales. „Nur weil wir uns zu jeder Zeit auf Augenhöhe begegneten, dürfen wir diesen Tag heute genießen und bekommen die Chance, gemeinsam etwas daraus zu machen.“

An einem Stehtisch sieht Gregor Gysi nach der Ministerpräsidentenwahl dem Auftritt des langjährigen Weggefährten, Streitpartner und nun neuen Ministerpräsidenten zu und freut sich. „Das ist wirklich ein großer Tag. Dass ich das noch erleben darf“, sagt der Fraktionschef der Linken im Bundestag. Er hatte kurz zuvor in einem Doppelinterview für einen Fernsehsender dem jungen Fraktionschef der CDU in Erfurt, Mike Mohring, eine Kostprobe seiner Schlagfertigkeit gegeben. Als der Reporter zunächst den Thüringer Unionspolitiker nach seinem Urteil über den Ausgang der Wahl befragte und dieser natürlich durch den missglückten ersten Wahlgang der neuen Regierung keine Stabilität und schon gar keine lange Laufzeit voraussagte, konterte Gysi mit seiner bekannten Geste. Den Kopf leicht schräg haltend, grinsend und mit gezücktem Zeigefinder sagt der Berliner: „Naja, aber in Niedersachsen oder Hessen gab und gibt es Koalitionen, die auch mit einer Stimme Mehrheit regierten. Wissen Sie, ich kann Ihre Situation gut verstehen. Sie sind jetzt in der Opposition, da muss man einiges aushalten. Ich biete Ihnen an, dass ich mal eine Stunde unentgeltlich in Ihre Fraktion komme und erkläre, wie das in der Oppositionsarbeit funktioniert.“ Mohring vermochte seine Verblüffung nicht zu verbergen.

Gregor Gysi und Bodo Ramelow lernen sich 1993 in Bischofferode kennen. Der eine ist Chef der Linken im Bundestag, der andere HBV-Vorsitzender in Thüringen. Als die Kumpel des Kalibergwerkes in Bischofferode auf Beschluss der Treuhand ihren Betrieb und damit die Arbeitsplätze verlieren sollen, beginnt ein 81-Tage-Streik. Gregor Gysi, Lothar Bisky, Stefan Heym und Bodo Ramelow gehören zu den solidarischen Streikpartnern der Kumpel. „Dabei habe ich Gregor kennen und schätzen gelernt. Das hat mich geprägt und begründet unsere Freundschaft bis heute“, sagt Ramelow.

Auf den Ministerpräsidenten wartet nun der Alltag aus anderer Perspektive, vom Chefsessel aus. Termine im Bundesrat, bei der Kanzlerin und im Ausland werden nun hinzukommen – immer mit dem Parteibuch der Linken in der Tasche. Als dieses neue Kapitel im Leben Bodo Ramelows an jenem 5. Dezember 2014 begann, verkündete er nach seiner Vereidigung und erstem Auftritt in der Staatskanzlei diese Gewissheit auf seine Weise. „Guten Tag, ich heiße Bodo Ramelow und komme hier jetzt öfter vorbei.“ Als erste Maßnahme des neuen Kabinetts wurde ein Abschiebestopp für Flüchtlinge im Winter beschlossen.

linksfraktion.de, 8. Dezember 2014