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NATO: Krisen managend in die Offensive

Im Wortlaut von Sevim Dagdelen,

Deutsche Überlegungen zu einem der größten Rüstungsprojekte aller Zeiten

Von Sevim Dağdelen, Mitglied im Auswärtigen Ausschuss und Sprecherin für Internationale Beziehungen der Bundestagsfraktion DIE LINKE.    

Am 20. und 21. Mai 2012 werden sich in Chicago die Staats- und Regierungschefs und hochrangige Militärs aus den NATO-Mitgliedsstaaten und den zivilen und militärischen Stäben der NATO treffen, um die "Probleme“ des Bündnisses und dessen zukünftige Strategie zu diskutieren. Die eigens hierfür eingerichtete Homepage www.chicagonato.org/ informiert nicht nur über die geplanten "Sicherheitsvorkehrungen" und damit einhergehenden Einschränkungen für die BewohnerInnen der Stadt, sondern bietet auch unverblümt weitergehende Informationen über die "Führer der Welt“ an, welche aus diesem Anlass die Stadt "besuchen“ werden.   Ursprünglich war geplant, den diesjährigen G8-Gipfel an den beiden vorangehenden Tagen ebenfalls in Chicago abzuhalten, was von den linken und Antikriegsbewegungen in den USA als willkommener Anlass genommen wurde, die Themen Armut und Krieg miteinander zu verknüpfen und große Proteste vorzubereiten. Diese werden in Chicago stattfinden, auch wenn der G8-Gipfel mittlerweile nach Camp David verlegt wurde.   Eine gute Übersicht über die verhandelten Themen und Positionen liefert die NATO selbst in einer Studie des NATO Defense College. Dort erschien bereits im November 2011 ein Papier von Karl-Heinz Kamp unter dem Titel "NATO’s Chicago Summit: A Thorny Agenda“ ("Der NATO-Gipfel in Chicago – eine dornige Agenda“, www.ndc.nato.int/download/downloads.php?icode=308). Karl-Heinz Kamp ist ehemliger Absolvent der Bundeswehruniversität in Hamburg, war lange Zeit Leiter der Abteilung Außen- und Sicherheitspolitik der Konrad-Adenauer-Stiftung, wechselte dann als Direktor der Forschungsabteilung ans NATO Defence College und ist heute u.a. Mitglied in der Deutschen Atlantischen Gesellschaft, des Internationalen Instituts für Sicherheitsstudien, Berater des Verteidigungsministeriums und regelmäßiger Autor in den Publikationen der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik – kurz gesagt: einer der wichtigsten deutschen NATO-Strategen.   Die Erzählung des Krisenmanagements   Wenn ein solches Papier zum anstehenden NATO-Gipfel veröffentlicht wird, so ist von diesem zweierlei zu erwarten. Erstens kann man ihm die wichtigsten Themen entnehmen, die zur Diskussion stehen und jede solche Publikation ist Teil des Agenda-Settings und der Vorstrukturierung von Debatten. Zweitens, und noch viel wichtiger, werden hier bereits mögliche "Ergebnisse“ des Gipfels vorgeschlagen. Ergebnisse von Gipfeln sind zumeist gewisse Sprachregelungen, nach außen kommunizierte Einigkeiten und Streitigkeiten, die längst stattfindende und im Grunde außer Frage stehende Prozesse begleiten, legitimieren und in einem sehr begrenzten Maße auch lenken sollen. Egal, ob es sich dabei um einen Gipfel der G8, der NATO, einen Europäischen Rat zur Eurokrise oder eine Petersberg-Konferenz zur "Zukunft“ Afghanistans handelt, ein grundsätzliches Umsteuern ist von den beteiligten Akteuren nicht zu erwarten und angesichts des engen Zeitplans und der vorstrukturierten Debatten auch gar nicht möglich. Stattdessen geht es eben vornehmlich um gemeinsame Sprachregelungen, die Handlungsfähigkeit, eine wieder gewonnene Geschlossenheit oder auch immer öfter plakativ nach außen gekehrte Schein-Konflikte vermitteln sollen. Das wird in Karl-Heinz Kamps Papier sehr deutlich, offen spricht er darin mehrfach von "strategischer Kommunikation" und "Narrativen". Das Narrativ ist ein v.a. im Zuge der Diskursanalyse in Mode gekommener sozialwissenschaftlicher Begriff für "Erzählungen“, die eben nicht die Realität abbilden, sondern entweder gängige Verzerrungen in deren Wahrnehmungen repräsentieren oder eben auch mit strategischer Absicht etabliert werden, um diese Wahrnehmung in eine gewisse Richtung zu verzerren. Das funktioniert umso besser, wenn diese strategischen Narrative auf bereits bestehenden Fehlwahrnehmungen aufbauen können. Im Folgenden soll deshalb anhand der von Kamp angebotenen Narrative die dahinter zum Vorschein kommende gegenwärtige und zukünftige Strategie der NATO veranschaulicht werden.   Das dominierende Narrativ im Vorfeld des NATO-Gipfels und auch in Kamps Papier ist dasjenige der Krise und des Krisenmanagements, wobei es sich in diesem Fall nicht primär um die (angebliche) Wirtschafts-, Finanz- oder Staatsschuldenkrise handelt, sondern um eine Krise der NATO, die von den vorgenannten zwar verschärft würde, aber weitere Aspekte umfasst. Wie im Falle der sog. Staatsschuldenkrise nehmen ihre eigentlichen Verursacher bzw. Protagonisten diese zum Anlass, ihre eigene Agenda durchzusetzen, die entsprechenden Handlungen jedoch als reaktive Notlösungen erscheinen zu lassen.   Die Agenda der Krise   So vermittelt Kamp gleich in der Einleitung den Eindruck, die Agenda des NATO-Gipfels sei quasi von Außen, durch die Weltpolitik, vorgegeben, in der die NATO nur ein Getriebener sei. Eigentlich hätte der Chicagoer Gipfel ein "Implementierungsgipfel“ werden sollen, der primär die Umsetzung der 2010 in Lissabon getroffenen Beschlüsse evaluieren sollte. Nun hätten jedoch "drei politische Entwicklungen die internationale Sicherheitsagenda massiv verändert" und es sei wahrscheinlich, dass diese den Gipfel von Chicago "transformieren" würden, sodass er sich primär mit aktuellen Ereignissen und weniger oder gar nicht mit der so genannten "Lissabon-Agenda“ befassen könne. Die drei Ereignisse, welche die NATO angeblich derart aus der Bahn werfen konnten, sind seiner Auffassung nach: "Die Revolutionen in der arabischen Welt und der Bürgerkrieg in Libyen, die internationale Finanzkrise mit ihren unabsehbaren Folgen für die Verteidigungsetats der NATO und die neu aufgetauchte Debatte um die transatlantische Lastenteilung...“. Es ist offensichtlich, dass sich hinter diesem vermeintlichen Handlungsdruck in Wirklichkeit die Agenda des Umbaus der NATO in ein möglichst flexibles Offensivbündnis verbirgt, das trotz einer generell angestrebten Reduzierung der Staatsquote weltweit interventionsfähig bleiben und werden will. Diese Agenda verfolgt die NATO seit über zwei Jahrzehnten, wobei es nie reine "Implementierungsgipfel“ gab, sondern bei sich stets ausweitendem Aktionsradius stets aktuelle Krisen und Konflikte für die Strategieentwicklung prägend waren. Die Themen "Lastenteilung“ und Verteidigungshaushalte sind ebenso Dauerbrenner, wodurch die NATO ihre Mitgliedsstaaten zu möglichst hohen und in ihrem Sinne effizienten Militärausgaben drängt. Ein "zufriedenstellendes“ Ergebnis wird dabei grundsätzlich nicht erreicht. Das galt insbesondere auch für den Gipfel von Lissabon, aus dem eben keine nennenswerte "Agenda“ hervorging, deren "Implementierung“ man nun hätte "evaluieren“ können. Das wurde bereits damals als Symptom einer Krise der NATO gewertet und auch Kamp schreibt, dass sich "seit dem Lissabon-Gipfel gezeigt hat, dass Reformen in manchen Bereichen leichter gesagt, als getan sind". Kamp und die NATO wussten das natürlich auch schon vorher, aber auch hier muss eben die Situation - der ob seiner bloßen Ausmaße und Tiefe zwangsläufig schleppende Umbau der NATO - zur Krise stilisiert werden.   Betrachten wir hingegen, was tatsächlich passiert ist: Die Militärausgaben sind in den wenigsten NATO-Staaten tatsächlich gefallen und dort wo es passiert ist, nicht annähernd im befürchteten Maße. Zugleich wurden auf Europäischer Ebene und in deren Mitgliedsstaaten analog zur Bundeswehrreform Maßnahmen ergriffen, um Verteidigungskapazitäten zugunsten von Interventionsfähigkeiten abzubauen und letztere im Europäischen Rahmen zu bündeln. Außerhalb der EU gingen dabei Frankreich und Großbritannien kurz nach dem Lissabon-Gipfel mit einem Militärabkommen voran, das von Kamp als vorbildlich herausgestellt wird und sich tatsächlich kurz darauf im Libyenkrieg zu bewähren schien, wo die USA nur noch hinter den Kulissen eine Führungsrolle übernahmen. Libyen war es dann auch, welches nach dem Desaster in Afghanistan als neuer "Erfolg“ der NATO den Weg in zukünftige Interventionen weist – und den Ausweg in Afghanistan.   Afghanistan und darüber hinaus   Nach seiner krisenhaften Einführung geht Kamp auf die sieben Themen ein, die den Gipfel dominieren werden. Er beginnt dabei mit Afghanistan und wird mit Libyen enden. Am meisten redet Kamp hier über "Narrative", anstatt sie nur zu verbreiten. Man müsse den "Mythos entlarven“, dass der für 2014 vorgesehene "Abzug“ einen Abzug der Truppen bedeute und solle stattdessen von einer "Transition“, gar einer "tiefen Transition“ sprechen, um das anhaltende Engagement zu beschreiben und zu legitimieren. Gemeinsam solle man herausstreichen, dass das "militärische Engagement in Afghanistan... bei allen Rückschlägen und Hindernissen … nicht nur eine Notwendigkeit, sondern in der abschließenden Analyse auch ein Erfolg war“ (das weiß er bereits jetzt, inmitten der Transition). Dies könne man mit drei Argumenten untermauern: Erstens sei das Ziel erreicht worden "Al Kaida als von Afghanistan aus operierende Terrorgruppe" zu vernichten, zweitens gäbe es Fortschritte beim Staatsaufbau und drittens sei hier die Einigkeit des Bündnisses demonstriert worden: Niemand hätte gedacht, dass das Bündnis "trotz der Opfer an Blut und Geld" so lange durchhalte, was die Rede von "post-heroischen Gesellschaften, die keine Opfer zur Durchsetzung vitaler Interessen mehr akzeptieren könne", als Lüge entlarve. "Chicago wird die Gelegenheit sein, diesem Narrativ einen prominenten Ort zu geben". Außerdem müssten dort auch die Lehren aus Afghanistan gezogen werden: "Ist es ein Modell für die Zukunft oder war das eine einmalige Aufgabe für die NATO? Wie muss die Truppe nach 2014 strukturiert sein?" Denn der Erfolg in Afghanistan bedeutet nicht, dass der Krieg gegen den Terror gewonnen, beendet oder auch nur in Frage zu stellen wäre.   Ein bisschen Kalter Krieg   Die nächsten drei von Kamp behandelten Themen betreffen die Beziehungen zu Russland, die "Raketenabwehr“ und die Zukunft (nuklearer) Abschreckung. Auch hier wird die NATO in eine reaktive Rolle gerückt. Gerne würde die NATO auf einer Augenhöhe mit Russland kooperieren, aber dafür müsse sich Russland "modernisieren“, woran Putin kein Interesse habe und was vielleicht auch praktisch gar nicht möglich wäre. Ein weiteres Problem stellten die "von Russland beanspruchten Einflußsphären“ dar sowie die unterschiedlichen Auffassungen hinsichtlich einer möglichen NATO-Mitgliedschaft Georgiens. Besonders stark wird dabei die Position der "neuen NATO-Mitglieder im Osten“ gemacht, welche sich verständlicherweise durch Russlands "herbe Rhetorik und militärische Übungen“ bedroht fühlten. Auch Kamp selbst sieht die Gefahr, dass Russland "vermutlich (ökonomisch wie militärisch) zunehmend schwächer wird und dadurch in Versuchung geraten könnte, dies durch ein umso anmaßenderes und aufdringliches Vorgehen auf internationaler Ebene zu kompensieren“. So sei es Russland schlicht selbst zuzuschreiben, dass es beim so genannten "Raketenschild“, dessen vorläufige Operationsfähigkeit in Chicago verkündet werden solle, wohl keine nennenswerte Rolle spielen wird. Die volle Operationsfähigkeit soll in Chicago wohl für 2018 anvisiert werden. Dazu ob das aber tatsächlich zu größeren Beiträgen durch die europäischen NATO-Staaten führen wird, zeigt Kamp sich skeptisch. Hier verweist er am Rand doch auf die angeblich "dramatischen Haushaltskürzungen in fast allen Mitgliedsstaaten“, ohne jedoch auf die eigentliche Widersprüchlichkeit dabei einzugehen: Dass nämlich angesichts einer angeblich krisenhaften Haushaltslage eines der größten Rüstungsprojekte aller Zeitenin Angriff genommen wird, das eben nicht dazu dient, einer realen Gefahr zu begegnen sondern gerade deren Abwesenheit für eine umfassende technologische Hochrüstung an den Grenzen zu Russland, eine umfassende Modernisierung der NATO Führungs- und Kommunikationsinfrastruktur und der Seestreitkräfte (auf die wesentliche Teile des Raketensystems gestützt sind und deren dauerhafte Präsenz vor den Europäischen Küsten damit auf Jahrzehnte beschlossene Sache ist) nutzt.   Noch mehr an die Zeiten des Kalten Krieges erinnert fühlt man sich bei Kamps Überlegungen zur nuklearen und konventionellen Abschreckung. Besonders hier betont Kamp die "aus historischen und geografischen Gründen" wohl begründeten unterschiedlichen Auffassungen und Konfliktlinien - um den zugrundeliegenden Konsens geradezu zu verschleiern: "Von der ambitionierten Idee einer atomwaffenfreien Welt, die der US-Präsident 2009 in Prag vorstellte, ist nicht viel übrig geblieben". Klar ist, dass weiter abgeschreckt werden und dass dabei Atomwaffen - neben konventioneller Aufrüstung und dem "Raketenschirm“ - einer von drei Pfeilern sein müssen. Stattdessen müsse sich die Diskussion darauf konzentrieren „wie man wen mit was“ abschreckt („how to deter whom with what“). Diese Debatte sei fruchtbar, auch wenn aufgrund der „Differenzen“ und „Konflikte“ innerhalb des Bündnisses keine klaren Ergebnisse zu erwarten seien. Das Ergebnis ist geradezu typisch für die NATO als sich selbst überschätzendes Militärbündnis mit Weltmachtanspruch: Wir bedrohen alle mit Allem, zur Abschreckung gegen: Nichts.   Mit Smart Defense zur Interventionsarmee   Bevor Kamp darauf eingeht, wie dies ermöglicht werden soll, handelt er kurz den Punkt "Arabischer Frühling“ ab, auf den er jedoch abschließend zurückkommt und der auch bei dieser kleinen Zusammenfassung am Ende stehen soll. Dazwischen bespricht er noch die Themen „Smart Defense“ und Transatlantische Lastenteilung. Beide bezeichnet er als "neue Themen“ und führte er ja bereits in der Einleitung auf drängende, externe Probleme wie die Staatsschuldenkrise zurück. Zugleich räumt er jedoch selbst ein, dass "das Ungleichgewicht zwischen Aufgaben und Ambitionen der NATO und den finanziellen Beiträgen der Mitgliedsstaaten fast so alt ist, wie das Bündnis selbst" und es bereits "zahlreiche Pläne und Initiativen gegeben hätte, um die finanziellen Probleme zu bewältigen und ausreichend militärische Kapazitäten zu garantieren". Die von NATO-Generalsekretär Rasmussen angestoßene Debatte um "Smart Defense“ soll den in Wahrheit kontinuierlichen Bemühungen um die Aufrüstung der Mitglieder und den möglichst direkten Zugriff der NATO auf diese Kapazitäten lediglich unter einem neuen Schlagwort zusätzliche Dynamik verleihen. Chancen hierfür sieht Kamp wiederum in der Krise: "[Diese Debatte] wurde in einer nahezu einzigartigen Situation initiiert, in der die internationale Finanzkrise mehr Druck auf die nationalen Haushalte ausübt, als jemals zuvor“.   Es gibt jedoch noch einen zweiten Aspekt, den Kamp unerwähnt lässt. Im Mittelpunkt der "Smart Defense“ steht das Konzept des "Pooling & Sharing“, wonach einzelne Staaten und v.a. Gruppen von Staaten sich auf die Bereitstellung gemeinsamer Fähigkeiten - Führung, Aufklärung, Strategischer oder Taktischer Lufttransport usw. - konzentrieren. Das entspricht ziemlich exakt dem nächsten Schritt der Militarisierung der Europäischen Union auf dem Weg zur "Europäischen Armee“, der nach der Einrichtung des gemeinsamen, zivil-militärischen Europäischen Auswärtigen Dienstes und der Aufstellung gemeinsamer Battlegroups nun ansteht und von der Europäischen Rüstungsagentur EDA bereits seit 2004 vorbereitet wird. Gerade hier hat sich in den letzten zwei Jahren einiges getan. Vor gut einem Jahr nahm das Europäische strategische Lufttransportkommando seinen Dienst auf. Insbesondere Deutschland tat sich im Rahmen des "Weimarer Dreiecks“ mit dem Ziel eines eigenständigen EU-Hauptquartiers, der Aufstellung stehender zivil-militärischer Battlegroups sowie einer stärkeren Zusammenarbeit bei der gemeinsamen Beschaffung und Nutzung von Militärgerät und der schwedisch-deutschen Gent-Initiative hervor. Das britisch-französische Militärabkommen, das u.a. die gemeinsame Nutzung von Flugzeugträgern, eine gemeinsame Brigade und sogar die Zusammenarbeit bei der Weiterentwicklung der Atomwaffen vorsieht, kann durchaus als Ergänzung wie als Gegenentwurf hierzu gesehen werden. Zwar kritisiert etwa die SPD-Bundestagsfraktion diese Schritte als zu zaghaft und forderte sie kürzlich in ihrem Antrag „Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) weiterentwickeln und mitgestalten“ von Deutschland - ebenfalls nach einleitendem Verweis auf die "Verschuldungskrise innerhalb der Eurozone“ - in einer "Vorreitergruppe … voran[zu]gehen“, um "das Projekt einer europäischen Integration von Sicherheit und Verteidigung sichtbar voranzubringen“. Dabei verkennt sie aber wissentlich und willentlich Tiefe und Umfang des Transformationsprozesses zu einer Europäischen Interventionsarmee, die u.a. auch auf nationaler Ebene in den Mitgliedstaaten Umstrukturierungen der Streitkräfte voraussetzt, wie sie gegenwärtig im Zuge der Bundeswehrreform in Deutschland mit allen Widerständen und Hindernissen durchgesetzt werden.   Auf den ersten Blick mag es ja sinnvoll erscheinen, wenn nicht jedes einzelne Land große Aufklärungsdrohnen entwickelt, multinationale Hauptquartiere bereitstellt und sich eine Flotte militärischer Großraumtransporter aufbaut - das wäre auch schlicht unmöglich. Unter den Tisch gekehrt wird dabei jedoch, dass sich "Pooling & Sharing" quasi per Definition nur auf Offensiv-Kapazitäten bezieht. Die Entscheidung, eine europäische Interventionsarmee aufzubauen, ist somit bereits vorweggenommen und die angebliche Staatsschuldenkrise wird nicht etwa genutzt, um diese in Frage zu stellen, sondern um ihre Implementierung zu beschleunigen. Dieser stehen - wie gesagt - auch Hindernisse im Weg, zum Beispiel das deutsche Grundgesetz. Von der darin enthaltenen Festschreibung der Bundeswehr auf Verteidigungsaufgaben hat die laufende Rechtssprechung des Verfassungsgerichts lediglich den Parlamentsvorbehalt übrig gelassen. Dieser steht im Zuge der Multilateralisierung und Europäisierung schon länger unter Beschuss, diese Bemühungen um eine weitere Aushöhlung der parlamentarischen Kontrolle werden jedoch im Zuge der Debatte um "Pooling & Sharing“ geradezu strategisch intensiviert. So forderte der deutsche Spitzendiplomat und Leiter der NATO-Sicherheitskonferenz in München bereits im Sommer vergangenen Jahres eine „Reform parlamentarischer Veto-Praxis hinsichtlich [deutscher] militärischer Beiträge im Rahmen multinationaler Militärmissionen“. Beiträge zu multinational bereitgestellten Fähigkeiten sollten, "so sie von der NATO oder der EU angefragt werden, von nationalen Vetos ausgenommen sein“. Bei Kamp klingt das so: "Ein hohes Maß an Vertrauen ist nötig zwischen denen, die ihre Kapazitäten integrieren (pool) und den Zugang zu diesen gemeinsam genutzten Fähigkeiten teilen (share). Die Verbündeten müssen sicher sein, dass ihre Partner ihren Beitrag … leisten, wenn Bedarf ist. Wenn es Zweifel an der Entschlossenheit von Regierungen gibt, ihren Beitrag kurfristig zu leisten oder die Entscheidungen zu militärischen Aktionen durchzusetzen (z.B., weil parlamentarische Regelungen ein politisches Handeln blockieren können) wird Pooling und Sharing scheitern.“   Die NATO als Kriegsdienstleister   Der letzte Absatz handelt jedenfalls nach der Überschrift von der transatlantischen Lastenteilung, in Wirklichkeit jedoch geht es um Libyen - ein "Erfolg“, wie Kamp offensichtlich nicht oft genug erwähnen kann, "zufriedenstellend“ und offensichtlich auch richtungsweisend für die NATO. Bereits zuvor hieß es zum "Arabischen Frühling“ dass die NATO in Chicago eine Grundsatzerklärung zu den politischen Entwicklungen in der MENA-Region (Nahost und Nordafrika) verabschieden werde, in der sie ihre Bereitschaft zur Unterstützung "wann immer sie darum gebeten wird“ signalisieren wird. Eine solche Erklärung müsse jedoch wegen des offensichtlich autoritären Charakters vieler Partnerregime in der Region hinsichtlich der Begriffe "Freiheit“ und "Demokratie“ "sehr bedacht formuliert sein, um nicht kontraproduktiv zu sein. Formulierungen wie 'Selbstbestimmung' und 'Mehrwert', den die NATO (wenn gewollt) beitragen kann, könnten angemessener sein.“ Wer nun aber jeder potentiellen Aufstands- und Sezessionsbewegung der "gefährlichsten Region der Welt“ seine militärische Unterstützung anbietet unter der einzigen Bedingung, dass diese zur Kooperation mit der NATO bereit ist, der legt das Feuer zu einem Flächenbrand. Vor diesem Hintergrund scheint die abschließend aus dem Libyenkrieg abgeleiteten Frage eher rhetorischer Natur: "Ist es eine Aufgabe der NATO, sich in Bürgerkriegen jenseits des Bündnisgebietes zu engagieren?" Klare Antworten seien nicht zu erwarten, so Kamp noch einmal. Fragend stürzt sich die NATO in die Offensive, hält an der Nuklearen Abschreckung und der Zurückdrängung russischer Einflußsphären ebenso fest, wie am Krieg gegen den Terror und am Modell Libyen, das bereits in Syrien maßgeblich zur Eskalation beigetragen hat. Man nutzt die Krise, um sie weiter zu verschärfen, die weitere Aufrüstung zu forcieren, ohne sich auch nur festzulegen, wofür oder wogegen man rüstet - irgend ein Staat wird schon "voranschreiten“, und eine parlamentarische Kontrolle soll nicht mehr stattfinden. Das ist Krisenmanagement - und brandgefährlich. Die Forderung nach dem Austritt aus den militärischen Strukturen der NATO ist damit aktueller denn je. Die NATO steckt nicht in der Krise, sie ist die Krise.
Quelle: Neue Rheinische Zeitung