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Nach wie vor ist Hartz IV Armut per Gesetz

Interview der Woche von Katja Kipping,

Katja Kipping, Mitglied der Fraktion DIE LINKE, zur Debatte um die Verlängerung des ALG I und über die Notwendigkeit einer Partei, die engagiert für einen Mindestlohn und für eine repressionsfreie Grundsicherung kämpft

Die Spitzen von Union und SPD vermelden eine Einigung über längere Zahlungen des Arbeitslosengeldes I für Ältere. Ein schöner Tag für Erwerbslose?

Nur weil das Arbeitslosengeld I einige Monate länger gezahlt wird, ist das Grundübel von Hartz IV nicht vom Tisch. Leben in Hartz bedeutet trotzdem noch Leben in Armut, Leben unter Verdächtigung und Leben mit Repressionen und Bevormundung.

Geben die gesunkenen Arbeitslosenzahlen nicht dem Kurs von Schröder und Müntefering und ihrer Agenda 2010 Recht?

Ich hab noch nie viel von der Losung Hauptsache Arbeit gehalten. Entscheidend ist doch nicht, wie viel neue Arbeitsplätze, sondern welche Arbeitsplätze entstanden sind. Nur bei jedem zweiten der neuen Jobs handelt es sich um eine sozialversicherungspflichtige Vollzeitstelle. Und davon ist der Großteil Leiharbeit.

Außerdem, wer weiß wie viele gute Arbeitsplätze angesichts der Konjunktur entstanden wären, wenn es keinen Sozialraubbau a la Agenda 2010 gegeben hätte.

Auf der Tagung der AG Wohnungslosigkeit berichtete ein Obdachloser, wie die im Zuge der Agenda 2010 eingeführte Praxisgebühr Obdachlose von selbst dringen nötigen Arztbesuchen abhält. Schlimme Krankheiten werden so verschleppt. Das ist auch eine Folge der Agenda 2010.

1,2 Millionen vollbeschäftigte Arbeitnehmer/innen sind derzeit auf ergänzende Hartz-IV-Leistungen angewiesen. Die Chancen, dass es bald einen gesetzlichen Mindestlohn geben wird, den DIE LINKE fordert, stehen schlecht. Union und SPD haben sich hierzu nicht einmal für das Postgewerbe einigen können. Ist in einer solchen Situation Hartz IV nicht sogar unverzichtbar?

Gerade in solch einer Situation braucht es eine Partei, die engagiert für einen Mindestlohn und für eine repressionsfreie Grundsicherung kämpft.

DIE LINKE sagt: Hartz IV ist Armut per Gesetz und muss weg. Was soll danach kommen?

Wir wollen Hartz IV abschaffen, aber nicht in Zustand davor zurückfallen. Es geht vielmehr um eine Überwindung von Hartz IV. Im Klartext: die Ein-Euro-Jobs sollen durch ordentliche öffentlich geförderte Beschäftigung ersetzt werden. Das Arbeitslosengeld II soll durch eine repressionsfreie Grundsicherung abgelöst werden und das Konstrukt Bedarfsgemeinschaft soll abgeschafft. Wir setzen stattdessen auf das Individualprinzip.

Oppositionsfraktionen können die Alltagstauglichkeit ihrer Konzepte kaum testen. Gibt es Bespiele dafür - eventuell bei unseren europäischen Nachbarn -, die zeigen, dass DIE LINKE nicht Luftschlösser baut, sondern funktionierende Modelle entwickelt?

Beim Mindestlohn hinkt Deutschland ja der europäischen Realität hinterher. Berlin und Mecklenburg-Vorpommern haben gezeigt, dass eine andere Öffentliche Beschäftigung möglich ist.

Aber apropos Alltagstauglichkeit: Wir konnten zwar die repressionsfreie Grundsicherung noch nicht einem Alltagscheck unterziehen. Hartz IV ist aber durch diesen Text bereits durchgefallen. Die Untauglichkeit der herrschenden Sozialpolitik wird jeden Tag aufs Neue bewiesen. Davon kann ich mich immer wieder in Gesprächen mit Erwerbslosen überzeugen.

Laut einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung besitzen die reichsten zehn Prozent der Deutschen fast zwei Drittel des Vermögens. Bedeuten Begriffe wie „sozial“ und „Solidarität“ in der Bundesrepublik überhaupt noch etwas?

Ich bin überzeugt, am Ende zahlt nur Solidarität sich aus. Aber hier müssen wir auch unsere eignen Konzepte kritisch überprüfen. Das Rentenkonzept der Bundestagsfraktion beispielsweise setzt vorrangig auf Lebensstandardsicherung. Das ist toll für diejenigen, die hohe Löhne haben. Für Menschen mit niedrigen Löhnen und Erwerbslose bedeutet Lebensstandardsicherung die Zementierung von Armut im Alter. Hier müssen wir das Äquivalenzprinzip zu Gunsten der Armutsfestigkeit und der Solidarität stärker einschränken.

Wird die vermeintliche Wende der SPD auf ihrem Hamburger Parteitag zu einer nachhaltigen Rückbesinnung auf soziale Werte in der deutschen Politik führen?

Schön wäre es ja. Aber alles was ich seit Hamburg von der SPD im Sozialausschuss erleben konnte, nährt meine Zweifel daran. Um nur ein Beispiel von vielen zu nennen: Obwohl das zuständige Ministerium ermittelt hat, dass es beim Hartz-IV-Regelsatz zu einem realen Kaufkraftverlust von 20 Euro gekommen ist, verweigert man sich kategorisch einer Regelsatzerhöhung. Am Donnerstag bringt die Linksfraktion einen Antrag ein, indem sie für Menschen, die auf Arbeitslosengeld II und auf Asyl angewiesen sind, eine Weihnachtsbeihilfe von 40 Euro fordert. Wir werden ja bei der Abstimmung sehen, wie weit die Rückbesinnung auf soziale Werte geht.

linksfraktion.de, 14. November 2007