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Merkels Blendwerk

Im Wortlaut von Sabine Zimmermann,

Hinter Bürokratieabbau versteckt sich oft das Schleifen sinnvoller Standards

Bürokratieabbau ist ein weiteres Ziel, das sich Berlin für die Zeit seiner EU-Ratspräsidentschaft gesteckt hat. Unsere Autorin rät, hinter die wohlklingenden Ankündigungen zu schauen.

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat den Bürokratieabbau zu einem Eckpfeiler der EU-Ratspräsidentschaft 2007 erklärt. Vor einem Jahr sprach sie dazu auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos: Wir fesseln "im Augenblick grandiose Kräfte in Deutschland dadurch, dass wir uns in Regularien, die scheinbare Sicherheit versprechen, verfangen haben." Und: Es ist "wirklich des Schweißes der Edlen wert, einmal zu überlegen, ob wir diese Kraft und dieses Kapital nicht in Menschen investieren könnten, anstatt uns immer und immer wieder vermeintlich sichere Regelungen auszudenken."

So heroisch die Wortwahl, so simpel die Botschaft: Die Wachstumsprobleme in Deutschland und anderswo sind Folge einer überregulierten Wirtschaft. Die Bundeskanzlerin steht mit dieser Diagnose nicht allein. Die EU-Kommission verstieg sich jüngst zu der Aussage, ein um 25 Prozent verringerter Verwaltungsaufwand lasse das Bruttoinlandsprodukt der EU um 1,5 Prozent steigen.

Es ist vernünftig, überflüssige und veraltete Regelungen abzubauen. Genau drauf geschaut, zeigt sich jedoch: Das derzeitige Vorhaben Bürokratieabbau ist wirtschaftspolitisch eine kleine Nummer, hat aber gefährliche Nebenwirkungen. Was droht, ist ein Abbau sozialer, ökologischer und gesellschaftlich sinnvoller Standards.

Mythos und Realität klaffen bei kaum einem anderen wirtschaftspolitischen Thema so weit auseinander. Beispiel Statistikpflicht: Laut Wirtschaftswoche wendet eine mittelständische Gießerei zur Erstellung von Statistiken pro Jahr 600 Arbeitsstunden auf. Angebliche Gesamtkosten: 46 500 Euro. Tatsächlich werden jedoch 85 Prozent der 3,5 Millionen Unternehmen in Deutschland überhaupt nicht zu einer Erhebung der statistischen Ämter herangezogen. Das zeigt eine repräsentative Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. Die verbleibenden berichtspflichtigen 500 000 Unternehmen befassten sich durchschnittlich gerade mal 64 Minuten im Monat mit Fragen der amtlichen Statistik!

17 Euro pro Firma

Die geringe wirtschaftspolitische Bedeutung des Themas demonstriert die Bundesregierung derzeit selbst mit ihrem zweiten Gesetz zum Abbau bürokratischer Hemmnisse. Die Wirtschaft soll mit der Ausdünnung von Vorschriften um rund 60 Millionen Euro entlastet werden. Bei 3,5 Millionen Unternehmen entspricht das einem Betrag von 17 Euro jährlich pro Firma.

Merkels Bürokratieabbau ist eine Nebelkerze, die den Mangel an Konzepten verbergen soll und keine neuen Arbeitsplätze schaffen wird. Gestrichene Vorschriften können fehlende Aufträge eben nicht ersetzen, schon gar nicht bei kleinen und mittleren Unternehmen.

Um was geht es also wirklich? Unter dem Deckmantel des Bürokratieabbaus werden sinnvolle Regelungen und Standards geschliffen. Aktuell will die große Koalition die Statistikpflichten vermindern, nachdem sie zuvor - ebenfalls als Bürokratieabbau gepriesen - den betrieblichen Datenschutzbeauftragten für Kleinstbetriebe abschaffte und dafür von ihrem eigenen Bundesbeauftragten für Datenschutz auf schärfste kritisiert wurde.

Schutz vor Hautkrebs gestrichen

Angela Merkels Ankündigung, den Bürokratieabbau zu einem Eckpfeiler der deutschen Ratspräsidentschaft zu machen, verstärkt den falschen Kurs der EU-Kommission, der mit dem Anspruch einer "Besseren Rechtssetzung" nichts zu tun hat. Beispielhaft war der Streit um die so genannte Sonnenschutz-Richtlinie in den vergangenen zwei Jahren. Diese EU-Vorschrift sollte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer unter anderem vor übermäßiger Sonneneinstrahlung und damit möglichen Hautkrebs-Erkrankungen schützen. Die EU-Kommission zog den ursprünglichen Entwurf mit der Begründung des Bürokratieabbaus im September 2005 zurück. Die neue, im April 2006 in Kraft getretene Richtlinie spart nun die Risiken übermäßiger UV-Strahlenbelastung aus. Dieser "Bürokratieabbau" hat nichts mit einer "Besseren Rechtssetzung" zu tun, sondern ist ein sozialer Rückschritt.

Vor diesem Hintergrund nennt der Generalsekretär des Europäischen Gewerkschaftsbunds John Monks die Initiative der EU-Kommission eine "deregulierende Übung". Er warnt, das Vorhaben von EU-Kommissar Verheugen, die europäische Gesetzgebung zu vereinfachen, bedrohe Gesundheit und Sicherheit. Ebenso kritisiert das Europäische Umweltbüro, die Initiative "Bessere Rechtssetzung" werde auf die Wettbewerbsfähigkeit verengt, und fordert, ökologische und soziale Aspekte gleichermaßen zu berücksichtigen.

Auf ihrem Frühjahrsgipfel am 8./9. März wollen die Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedsländer ein Aktionsprogramm zum Bürokratieabbau starten. Statt einer weiteren Deregulierung das Wort zu reden, müsste die Bundesregierung auf eine Wirtschaftspolitik drängen, die die Binnennachfrage stärkt. Zu dem muss bei jeglichem Vorhaben einer "Besseren Rechtssetzung" der gesellschaftliche Nutzen einer Rechtsvorschrift im Vordergrund stehen. Sonst ist die Bundesregierung mit dafür verantwortlich, dass die EU weiter mehr Wirtschafts- als Sozialunion wird.

Von Sabine Zimmermann

Die Autorin
Sabine Zimmermann ist Bundestagsabgeordnete der Linksfraktion und Vorsitzende der DGB-Region Vogtland-Zwickau im Freistaat Sachsen. Wegen der Agenda-2010-Politik der Bundesregierung Schröder trat sie aus der SPD aus und ist heute parteilos. fr

Frankfurter Rundschau, 3. März 2007