Zum Hauptinhalt springen

Menschlichkeit und Toleranz müssen dominieren

Interview der Woche von Gregor Gysi,

Gregor Gysi über die Manöver der Union, anlässlich des 70. Jahrestages der so genannten Reichprogromnacht eine gemeinsame Erklärung aller Bundestagsfraktionen zum Kampf gegen Antisemitismus zu verhindern

Am 9. November 2000 demonstrierten in Berlin mehrere hunderttausend Menschen für Menschlichkeit und Toleranz. Erinnern Sie sich?

Selbstverständlich erinnere ich mich an die Demonstration, an die Hoffnung, dass endlich Menschlichkeit und Toleranz unsere Gesellschaft vollständig dominieren. Aber das werde ich wohl nicht mehr erleben.

Diese Großdemonstration ging auf eine gemeinsame Initiative aller im Bundestag vertretenen Parteien zurück. Regierungs- und Oppositionsparteien haben seinerzeit sogar zusammen an der Vorbereitung und Mobilisierung gearbeitet. Heute - acht Jahre später - reicht es nicht einmal mehr zu einem gemeinsamen Antrag aller Fraktionen zum 70. Jahrestag der so genannten Reichspogromnacht. Was ist geschehen?

Die Union forciert die Auseinandersetzung mit der Linkspartei, ist geprägt durch Hass und einen Mangel an Verantwortung für gesellschaftliche Entwicklungen. Deshalb hat sie das Bündnis mit unserer Partei in Sachsen gegen die NPD aufgekündigt, deshalb ist sie nicht bereit, mit uns gemeinsam Antisemitismus in der Gesellschaft zu bekämpfen.

Sie haben an die Union appelliert, “dafür zu sorgen, dass der Bundestag geschlossen in die Gesellschaft, nach Israel und in andere Länder das Signal sendet, dass alle relevanten politischen Kräfte Deutschlands gegen Antisemitismus kämpfen”. Ist ein solches Signal wirklich notwendig?

Ein solches Signal ist dringend erforderlich, um den immer wieder neu entstehenden Antisemitismus zu überwinden. Antisemitismus, Rassismus, Ausländerfeindlichkeit, Homophobie - all das sind Erscheinungen des Mittelalters, die auch das 20. Jahrhundert prägten. Es muss endlich einen Neuansatz im 21. Jahrhundert geben.

Ihre letzte Nahostreise liegt noch nicht lange zurück. Welche Perspektiven für Israel wurden Ihnen denn von Politikerinnen und Politikern in den moslemischen Nachbarländern aufgezeichnet?

Immer mehr Politikerinnen und Politiker der arabischen Nachbarländer akzeptieren das Existenzrecht Israels. Alles andere wäre auch falsch, ist auch gar nicht realisierbar. Ebenso muss akzeptiert werden, dass die Palästinenserinnen und Palästinenser einen lebensfähigen eigenen Staat benötigen. Wenn beides erreicht ist, kann es endlich auch Frieden im Nahen Osten geben, und zwar zum Wohle aller, die dort leben.

Hat DIE LINKE eine eindeutige Haltung gegenüber Israel?

Die Haltung gegenüber Israel ist insofern eindeutig, als wir alle das Existenzrecht Israels bestätigen, als wir alle die besondere historische Verantwortung der Deutschen gegenüber Jüdinnen und Juden akzeptieren, als wir alle wissen, dass Geschichte immer wieder der Aufarbeitung bedarf. Andererseits gibt es Kritik an Israel, weil die Rechte der Palästinenserinnen und Palästinenser nach wie vor nicht durchgesetzt sind.

linksfraktion.de, 3. November 2008