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Mehr OSTEN wagen. Aber für die ganze Republik.

Im Wortlaut von Roland Claus,

Beitrag in der Reihe »Was ist systemrelevant?«

Von Roland Claus





Ein junger Mensch, der heute, im Jahre 2012, im Osten Deutschlands seinen Lehrvertrag unterschreibt, besiegelt damit sein Schicksal als Ostrentenanwärter. Das klingt absurd, nicht wahr? 22 Jahre nach der Vereinigung. Wo es doch überall heißt, die Unterschiede zwischen Ost und West seien längst verwachsen oder doch auf dem schnellsten Wege dahin. Aber das Rentenrecht spricht seine eigene, unbestechliche Sprache. Und die heißt eben im Jahre 2012: Auch auf den Rentenbescheiden des Jahres 2060 wird noch unterschieden sein zwischen Ost und West. Der Mensch aus dem Osten wird bei gleicher Lebensarbeitsleistung eine niedrigere Rente haben als der aus dem Westen. 70 Jahre nach der Vereinigung. So geht deutsche Einheit nicht.

Warum das so ist? Das wissen allein die Bundesregierungen. Und zwar alle, die seit 1990 die Verantwortung im vereinigten Deutschland getragen haben. Weder die CDU/CSU/FDP-Koalition von 1990 bis 1998 noch die SPD/Grüne-Koalition von 1998 bis 2005, die CDU/CSU/SPD-Koalition von 2005 bis 2009 oder die CDU/CSU/FDP-Koalition seit 2009 haben es fertig gebracht, die deutsche Teilung in Sachen Rentenrecht zu überwinden.

Herrschende Rentenpolitik produziert Altersarmut – gesteigert im Osten

Das ist ein unerhörtes Armutszeugnis, und zwar im mehrfachen Sinne des Wortes. Die Rentenpolitik der Bundesregierung produziert – wie gerade dieser Tage der Armutsbericht eindrucksvoll ausweist – deutschlandweit Altersarmut, und sie produziert sie gesteigert und insbesondere im Osten. Denn da die Löhne im Osten heute im Durchschnitt noch immer nur dreiviertel so hoch sind wie die im Westen – wie sollen da, wenn auch noch die Rentenpunkte niedriger bewertet werden, Renten entstehen, die zur Bestreitung des Lebensunterhaltes ausreichen?

Und ein Armutszeugnis für die herrschende Politik in Sachen Osten sind auch wichtige andere wirtschaftliche Eckdaten. Das hat gerade erst eine Studie des Beratungsunternehmens Roland Berger bestätigt. Auch das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf der Bevölkerung liegt im Osten nur bei knapp drei Viertel dessen im Westen; bei Forschung und Entwicklung ist mit 216 Euro je Einwohner gar erst ein Drittel des Westniveaus erreicht. Und die Schere hat sich in den vergangenen Jahren nicht etwa weiter geschlossen, sondern geöffnet.

Damit hat sich ein Weg als Irrweg erwiesen, der – so meinten es die verschiedenen Bundesregierungen – eigentlich ein Königsweg sein sollte: der Weg der Billiglöhne. Sie sollten es sein, die Investoren in den Osten locken; mit ihnen wollte man einen Aufbau Ost erreichen, den man einfach nur als Nachbau West – und zwar mit Schwerpunkt der Schaffung verlängerter Werkbänke – verstand.
 
Aber so geht das eben nicht. Wir LINKEN wollen, dass der Osten in die Lage versetzt wird, eine eigenständige Rolle im für ganz Deutschland auf der Tagesordnung stehenden sozial-ökologischen Umbau zu spielen. Erneuerbare Energien; regionale Energie- und Wirtschaftskreisläufe mit einer starken Rolle kleiner und mittlerer Unternehmen und der dafür unabdingbaren Unterstützung durch regionale Banken, wie sie die Sparkassen darstellen; neue Lösungen im öffentlichen Personennahverkehr; eine auf Energieeinsparung setzende Verkehrsinfrastruktur; flächendeckende schnelle Internetverbindungen; neue Systeme der mobilen medizinischen Versorgung; neue Formen der Gestaltung von Bildung und kulturellem Leben – all dies gilt es in den Blick zu nehmen, wenn es wirklich zu einer Angleichung der Lebensverhältnisse kommen soll. Nicht am Tropf des Westens hängend kann diese Aufgabe gemeistert werden, sondern nur durch ein gesamtpolitisches Umsteuern.

Es geht nicht um Besserwisserei

Dies ist der Moment, wo wir von einem für die Gesamtentwicklung fruchtbar zu machenden Erfahrungsvorsprung Ost reden. Nicht um irgendeine Besserwisserei geht es, sondern um die einfache Anerkennung dessen, dass im Osten mit der Entwicklung seit 1990 ganz besondere und tiefgreifende Transformationserfahrungen gemacht worden sind. Das Verschwinden ganzer Industrien und Bildungs- und Forschungslandschaften, eine umfassende Umgestaltung der Landwirtschaft und ein fundamentaler, mit der unablässig sich fortsetzenden Abwanderung vor allem junger Menschen verbundener Stadtumbau mussten gemeistert werden. Dabei sind positive und negative Erfahrungen gemacht worden, die – davon sind wir fest überzeugt – in den kommenden Jahren von wachsender Bedeutung für das ganze Land sein werden.

Indem wir dies zur Sprache bringen, sagen wir auch, dass die Frage der Angleichung der Lebensverhältnisse für uns nicht nur eine finanzielle Dimension hat.

Es  geht eben darum, dass die Lebensläufe und Lebensleistungen der Menschen gleichermaßen gewürdigt werden; dass die Menschen ein gleiches Recht darauf haben, selbstbewusst und würdevoll auf ihr Leben, ihre Arbeit, ihr gesellschaftliches Engagement zurückzublicken, und auch darauf, das gesellschaftliche System, in dem sie gelebt haben, mit differenzierender Sorgfalt bewertet zu sehen.

Die deutsche Einheit – daran muss zuweilen nachdrücklich erinnert werden – ist 1990 nicht als Unterwerfung der einen unter die anderen konzipiert gewesen, sondern tatsächlich als Vereinigungsprozess. Für DIE LINKE ist das Ringen um diese tatsächliche Vereinigung eine der Hauptsäulen ihrer Politik.

Deshalb: Mehr Osten wagen, aber für alle in West und Ost!

linksfraktion.de, 2. Oktober 2012

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