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Mehr Entspannung wagen!

Im Wortlaut von Jan Korte,

Heute vor 50 Jahren, am 10. Dezember 1971, wurde der Friedensnobelpreis an den damaligen Bundeskanzler Willy Brandt verliehen. Fast genau ein Jahr zuvor hatte sich Brandt vor dem Mahnmal für die Opfer des Aufstandes im Warschauer Getto niedergekniet. Ein entschiedener Gegner der Nazis, der selber verfolgt wurde und sich persönlich für nichts entschuldigen musste, bat um Vergebung für die deutschen Verbrechen des Zweiten Weltkriegs.

Den Friedensnobelpreis bekam Brandt allerdings nicht für diese unvergessliche und wichtige symbolische Geste, sondern für die ganz konkrete Entspannungspolitik seiner sozialliberalen Koalition und die Unterzeichnung des Moskauer- und Warschauer-Vertrages.

In der Begründung des Nobelpreiskomitees hieß es:

"Als Kanzler der Bundesrepublik Deutschland und im Namen des deutschen Volkes hat Willy Brandt seine Hand zur Versöhnung zwischen Völkern ausgestreckt, die lange Zeit Feinde waren. Im Geiste des guten Willens hat er außerordentliche Ergebnisse bei der Schaffung von Voraussetzungen für den Frieden in Europa erzielt."

Nobelpreis für den »Vaterlandsverräter»

Mit der Auszeichnung würdigte das Nobelpreiskomitee die Entspannungsbemühungen Willy Brandts, der als Kanzler der ersten sozialdemokratisch geführten Bundesregierung seit 1969 die Auswirkungen des Kalten Krieges und die Gegensätze zwischen den politischen Blöcken in Europa zu mildern versucht hatte. In Verträgen der Bundesrepublik Deutschland mit der Sowjetunion und Polen vom August beziehungsweise Dezember 1970 akzeptierte die sozialliberale Bundesregierung erstmals die Ergebnisse des Hitlerkrieges: Sie machte mit den Gebietsforderungen gegen die UdSSR und Polen Schluss und erkannte die Oder-Neiße-Linie mit 20 Jahren Verspätung als Grenze zwischen Polen und Deutschland an.

Der Bruch mit zwei Jahrzehnten Bonner Revanchepolitik war historisch, aber alles andere als einfach und brauchte großen Mut. Unvergessen sind in diesem Zusammenhang die elenden revanchistischen Angriffe der konservativen bis neofaschistischen Kräfte. Union und Springer-Presse bezeichneten Brandt unisono als Vaterlandsverräter, Adenauer sprach von ihm als "Brandt alias Frahm" und die NPD forderte gleich "Brandt an die Wand". Von einer (posthumen) Entschuldigung der Union für diese Hetze von damals fehlt bis heute jede Spur. Aber nicht nur Vertriebenenverbände und die Ewiggestrigen in und außerhalb der Union liefen gegen die neue Ost-Politik Sturm. Auch in Brandts eigener Partei gab es noch immer Stimmen, die eine Anerkennung der auf der Potsdamer Konferenz zwischen den Siegermächten vereinbarten Oder-Neiße-Linie als Westgrenze Polens, für Verrat hielten. 

Erinnerung an Brandts Ostpolitik nötiger denn je

Ohne die Entspannungs- und neue Ostpolitik wäre die Geschichte anders und sicher weniger friedlich verlaufen. Die Endgültigkeit der polnischen Westgrenze ist bis heute eine tragende Säule der Friedensordnung in Europa. Ihr Zustandekommen ist insbesondere Willy Brandt zu danken. Dafür gab es völlig zu Recht den Friedensnobelpreis und daran sollte erinnert werden, besonders am 10. Dezember 2021. Vonseiten der alten und neuen Bundesregierung hört man dazu leider: Nichts! Weder Bundesregierung noch Bundestag machten bislang irgendwelche Anstalten dieses Datum in irgendeiner Form begehen. Für die Fraktion DIE LINKE.im Bundestag hatte ich mich daher kürzlich an die Bundestagspräsidentin gewendet und angeregt, dass der Bundestag den 50. Jahrestag, trotz der Kurzfristigkeit, zumindest im kleinen Rahmen würdig begeht und an dieses herausragende historische Ereignis gedenkt. Auf die Antwort bin ich gespannt.

Noch wichtiger als eine solche symbolische Geste wären jedoch politische Lehren. Gerade in Zeiten einer sich zuspitzenden Konfrontation zwischen NATO und EU mit Russland und der aktuellen Entwicklung an der russisch-ukrainischen Grenze, ist eine Erinnerung an Brandts Ostpolitik nötiger denn je. Statt mit den Säbeln zu rasseln sollte sich die neue Bundesregierung, die sonst auch gerne sprachliche Anleihen bei Brandt nimmt, für ein Ende der Konfrontationspolitik und für Kooperation mit Russland und eine neue Entspannungspolitik einsetzen. Mehr Entspannung wagen ist das Gebot der Stunde!