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»Malochen bis zum Tode«

Im Wortlaut,

Immer mehr Rentner in Deutschland müssen auch noch im Ruhestand arbeiten

Von Fabian Lambeck

660 000 über 65-Jährige mussten im vergangenen Jahr mit Nebenjobs ihre Rente aufbessern. Zudem ist die Anzahl der Menschen, die eine Grundsicherung im Alter beantragen mussten, rasant gestiegen.

Der rentenpolitische Sprecher der Linksfraktion im Bundestag, Matthias W. Birkwald, wollte von der Bundesregierung wissen, »wie viele Rentnerinnen und Rentner einem Mini-Job nachgehen«. Die nun vorliegende Antwort auf seine parlamentarische Anfrage belegt einen beunruhigenden Trend: Demnach ist die Zahl der minijobbenden Rentner in den vergangenen zehn Jahren um 53 Prozent gestiegen. Zählt man auch jene Rentner mit, die eine andere Erwerbstätigkeit mit einem Mini-Job kombinieren, so beträgt der Anstieg gar 59 Prozent. »Ruhestand war gestern, malochen bis zum Tode heißt heute das Schicksal«, fasste Birkwald die Antwort der Bundesregierung zusammen.

Für den Linkspolitiker ist diese Entwicklung »die erschreckende Folge einer vollkommen verfehlten Arbeitsmarkt- und Rentenpolitik. Was Rot-Grün mit den Hartz- und Rentenreformen losgetreten hat, will Schwarz-Gelb heute ganz offenbar nicht ändern.«

Im zuständigen Ministerium sieht man derzeit keinen akuten Handlungsbedarf. Wie eine Sprecherin von Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) am Montag betonte, sei es »einfach so, dass mehr Menschen über 65 noch arbeiten möchten«. Die Sprecherin verwies zudem darauf, dass die Zahlen in letzter Zeit kaum gestiegen seien. So hätten im Jahr 2000 drei Prozent der Rentner gearbeitet, während es im Jahr 2010 dann 3,9 Prozent gewesen seien. Dieser Anstieg sei »nicht so gravierend«.

Doch ein Blick auf die absoluten Zahlen zeigt, dass es durchaus eine gravierende Zunahme von Beschäftigung im Alter gegeben haben muss. Im Jahr 2010 waren etwa 660 000 Menschen zwischen 65 und 74 Jahren als geringfügig beschäftigt registriert, so hieß es zumindest gestern aus dem Bundesarbeitsministerium. Im Jahr 2000 waren jedoch nur rund 416 000 Rentner einer Nebentätigkeit nachgegangen. Somit arbeiten heute 244 000 ältere Menschen mehr als noch vor zehn Jahren.

Laut offizieller Statistik gelten in Deutschland etwa 2,5 Prozent aller Rentner als arm. Dazu zählen vor allem die Empfänger der Grundsicherung im Alter, einer Art Hartz IV für Rentner. Im Jahre 2009 waren etwa 400 000 Menschen im Alter von über 65 Jahren auf die staatliche Grundsicherung angewiesen. Im Vergleich zum Jahr 2003 bedeutete dies einen Zuwachs von knapp 55 Prozent. Die »Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung« ist allerdings eine relative junge Sozialleistung: Sie wurde erst im Jahre 2003 unter Kanzler Gerhard Schröder (SPD) eingeführt.

Matthias W. Birkwald verwies am Montag auf ein weiteres Indiz für die Zunahme systembedingter Altersarmut. Demnach werde bei knapp vier Fünftel der Älteren, die auf Grundsicherung angewiesen sind, eigenes Einkommen angerechnet. Dieses Einkommen sei meistens die Rente, die nicht zum Leben reiche, kritisierte Birkwald. Dies gilt für immerhin 86 Prozent aller Fälle, in denen das Einkommen angerechnet wird.

Auch hier verzeichnen die Statistiken eine deutliche Zunahme jener Rentner, die unter die Bedürftigkeitsschwelle rutschten. Laut Birkwald sei die Zahl der Grundsicherungsempfänger, bei denen eine Altersrente angerechnet werde, seit 2003 »um über 113 000 Fälle oder 71,7 Prozent gestiegen«.

Besondere Brisanz gewinnen die nun veröffentlichten Zahlen, weil Arbeits- und Sozialministerin von der Leyen für den Herbst einen »Regierungsdialog Rente« plant. Anfang 2012 soll demnach ein Gesetzentwurf vorgelegt werden, der verhindern soll, dass die »Armutsgefährdung im Alter« weiter zunimmt.

Wie die Präsidentin des Sozialverbandes VdK, Ulrike Mascher, unlängst kritisierte, sei die Zeit der Kommissionen und Diskussionen »längst vorbei«. Die Fakten seien bekannt. »Wir haben kein Erkenntnisproblem, wir haben ein Umsetzungsproblem«, so Mascher. Offenbar spielt man im Ministerium auf Zeit.

Neues Deutschland, 23. August 2011