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»Living Wage« – britische Erfahrungen mit dem Mindestlohn

Im Wortlaut von Jutta Krellmann,

 

Von Jutta Krellmann, Sprecherin für Arbeits- und Mitbestimmungspolitik

 

Um sich über die Erfahrungen mit einem gesetzlichen Mindestlohns zu informieren, fuhren sieben Abgeordnete aller Fraktionen des Ausschusses Arbeit und Soziales im Vorfeld des deutschen Gesetzgebungsverfahrens letzte Woche für drei Tage nach London. Dort hatte ich als Vertreterin unserer Fraktion die Chance zu erfahren, wie sich ein Land entwickelt, das Mindestlöhne bereits vor 15 Jahren eingeführt hat.

Die erste gute Botschaft: Mindestlöhne führen auch in den seit Margaret Thatcher eingeführten neoliberalen Wirtschaftsstrukturen Großbritanniens nicht zum Verlust von Arbeitsplätzen. Die zweite Botschaft: Je einfacher und flächendeckender ein Mindestlohn ist, desto besser. Und zum Dritten die Erkenntnis: Deutschland ist mit seinem dualen Ausbildungssystem nicht mit Großbritannien zu vergleichen, da dort die Mehrheit der Jugendlichen direkt nach der Schule ohne eine längere spezifische Ausbildungszeit anfängt zu arbeiten.

Mindestlöhne sollen vor allem Beschäftigten im Niedriglohnbereich helfen, von ihrer Arbeit leben zu können – und offenbar sind diese in Europa in den gleichen Branchen zu finden: im Gaststättenbereich, im Gesundheitswesen und dort insbesondere in der Pflege, in der Landwirtschaft und so weiter. Dabei sind auch in Großbritannien besonders Frauen vom Niedriglohn und der damit verbundenen Inanspruchnahme des Mindestlohnes betroffen. Von Ausnahmen für Langzeitarbeitslose, wie sie die Große Koalition in Deutschland plant, fehlt nicht nur in Großbritannien jede Spur, sondern in ganz Europa.

Beeindruckend ist, wie breit die Zustimmung zum Mindestlohn in der britischen Bevölkerung auch nach 15 Jahren ist. Es gab auch dort große Sorgen, welche Auswirkungen die Einführung des Mindestlohns auf die Entwicklung der Arbeitsplätze hat, und auch damals wurden an den verschiedensten Stellen Ausnahmeregelungen gefordert.

Insofern war die Diskussion mit der sogenannten Low Pay Commission (LPC) besonders interessant. Diese Kommission ist jeweils mit drei Arbeitergebervertretern, drei Gewerkschaftsvertretern und drei unabhängigen Wissenschaftlern besetzt und erarbeitet seit 1997 jedes Jahr einen Vorschlag zur Anpassung des Mindestlohns, der anschließend im Parlament abgestimmt wird. Seitdem ist der Mindestlohn kontinuierlich gestiegen. Die Mitglieder der LPC sind stolz darauf, dass sämtliche Entscheidungen zur Erhöhung des Mindestlohnes einstimmig gefällt wurden. Die Einführung hatte auch keine nennenswerten Auswirkungen auf Verbraucherpreise und es mussten keine Betriebe schließen.

In den vielen Gesprächen, die wir während unseres Aufenthaltes führten, bereute keiner unserer Gesprächspartner die damalige Entscheidung zur Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns. Im Gegenteil: Heute wird in Großbritannien eher über die Höhe diskutiert. Insbesondere in London selbst und anderen Großstädten gibt es die Bewegung „Living Wage“, die die Lebenshaltungskosten zur Grundlage eines armutsfesten Mindestlohns macht und damit darauf hinweist, dass man in einigen Gegenden ohne zusätzliche staatliche Leistungen neben dem aktuellen Mindestlohn nicht existenzsichernd leben kann. Die „Living Wage“ wird von Kirchen, sozialen Organisationen und Einzelpersonen, wie dem Bürgermeister von London sowie von einzelnen Betrieben gestützt. Die Übernahme des „Living-Wage“-Mindestlohns ist freiwillig, macht aber deutlich, dass es auch nach 15 Jahren in Großbritannien eine gesellschaftliche Diskussion über die Höhe gibt und das die Britinnen und Briten nach wie vor ein großes Interesse an der Entwicklung und Durchsetzung eines armutsfesten allgemeinen Mindestlohn haben.

linksfraktion.de, 18. Juni 2014