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Kurze Wut und lange Zärtlichkeit

Im Wortlaut von Wolfgang Gehrcke,

Einheit der Linken auf dem Forum von São Paulo

Kurze Wut und lange Zärtlichkeit« - das sagte ein Delegierter als ein Vorschlag von ihm abgelehnt wurde, und das kennzeichnete die Atmosphäre in Buenos Aires. Dort kamen in der vergangenen Woche 600 Delegierte von 54 Organisationen aus 33 Ländern zum Forum von São Paulo zusammen. Es ist das Forum der lateinamerikanischen Linken, zu ihm gehören Kommunisten, Sozialisten, Anarchisten, Befreiungs- und neue soziale Bewegungen. Das Forum von São Paulo ist Träger und Motor der tiefen Veränderungen in Lateinamerika. Dort beendete die Linke zumindest in den meisten Ländern die Zeit der Militärdiktaturen und Bürgerkriege. Die Herrschaft der USA wurde zurückgedrängt. Linke übernahmen Regierungen - nicht die Macht, wie sie feinsinnig festhalten - in vielen Ländern: Chávez in Venezuela, Morales in Bolivien, Correa in Ecuador. Ortega wurde in Nicaragua wieder Präsident, in Brasilien ein Gewerkschaftsführer und in Uruguay ein ehemaliger Tupamaro. In Argentinien beendeten die Kirchners die Straflosigkeit der blutigen Militärdiktatur, die über 30000 Menschen ermorden ließ, und arbeiten mit den linken Regierungen ihres Kontinents zusammen. In El Salvador verlor die Rechte die Präsidentschaftswahl, in Mexiko konnte nur ein dreister Wahlbetrug den Linken die Präsidentschaft rauben. Kuba ist nicht mehr isoliert, isoliert sind die Putschisten in Honduras. Mit denen will keiner etwas zu tun haben mit Ausnahme der USA und Deutschlands. Eine offene Wunde bleibt Kolumbien, Chile eine schmerzliche Niederlage. Wobei das Forum betont: Die sozialen Bewegungen haben die Linke an die Macht gebracht. Sie würde verlieren, wenn sie die Bindung an die sozialen Bewegungen verlöre.

Noch hat die Rechte nicht aufgegeben, und noch bleiben die USA gefährlich. Doch die Linke konnte in Lateinamerika eine Epoche unglaublicher Brutalität und Unterdrückung beenden. Diese begann mit der Ermordung der Ureinwohner durch europäische Kolonisatoren, zu ihr gehörten die Versklavung ganzer Völkerschaften auf den Latifundien der Großgrundbesitzer und die grenzenlose Ausbeutung in den Bergwerken und Fabriken. Endlich wird in Lateinamerika gefragt nach den Toten, die der Panama-Kanal gekostet hat, nach den Verschwundenen in Argentinien, Uruguay, Chile und Brasilien, endlich wird gefragt nach den Opfern des Kupferbergbaus. Die indigenen Völker, denen man nicht nur ihr Gold, sondern ihre Lebensgrundlagen, ihre Würde und Geschichte geraubt hat, werden Teil linker Veränderungen.

Der Kampf um Rohstoffe und Märkte ist neu entbrannt. In Deutschland soll das strategische Lateinamerika-Konzept der schwarz-gelben Bundesregierung deutschen Unternehmen Zugang zu Rohstoffen und Märkten des Kontinents erleichtern. In dem Konzept stehen viele schöne Worte zu Freiheit und Menschenrechten, aber in Lateinamerika ist nicht vergessen, daß z.B. VW in Argentinien oder Daimler in Brasilien aufs engste mit den Militärdiktaturen verbunden waren. Dort weiß man, daß sich die deutsche Politik immer noch nicht kritisch mit ihrem Schweigen zu den Mörderregierungen etwa in El Salvador, Guatemala, Paraguay, Argentinien oder Chile auseinandersetzt.

Die Linke in Lateinamerika ist selbstbewußt geworden. Das Forum von São Paulo sieht sich als Vertretung der Mehrheit, hier treffen sich die Verändernden. Selbstbewußt anzugreifen und linke Pluralität wirklich zu leben - zuallererst das kann die europäische Linke von der lateinamerikanischen lernen. Und weiter: Nicht im Kapitalismus ankommen zu wollen, sondern ihn zu überwinden. Ob der Sozialismus des 21. Jahrhunderts aus Lateinamerika kommt, ist für mich offen, aber ohne die Erfahrungen der Linken, der Sozialisten und Kommunisten aus Lateinamerika wird man kein anständiges Programm für ein Europa des 21. Jahrhunderts zustandebringen.

Von Wolfgang Gehrcke

junge Welt, 27. August 2010