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Knallharte Jobs im Einzelhandel

Periodika,

Tayeb Azzab gehört zu einer exklusiven Minderheit: Er ist Betriebsrat beim Discounter Lidl und damit einer von nur fünf Arbeitnehmervertretern in Verkaufsstellen des bundesweit zweitgrößten Discounters. Annähernd 3.000 Filialen hat Lidl in der Bundesrepublik und Initiativen für weitere Filialbetriebsräte gab es zuhauf. Doch Mitbestimmung ist in diesem Unternehmen nicht erwünscht.

»Ich lasse mich nicht so leicht einschüchtern«, sagt Tayeb Azzab, der seit knapp sieben Jahren in einer Lidl-Filiale in Hamburg-Eimsbüttel arbeitet. »Ohne Hilfe von außen und stabiles Nervenkostüm hätten wir die Betriebsratswahlen kaum durchgestanden.« Mit Unterstützung der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di und dank guter Vorbereitung wurde am 1. November 2007 Tayeb Azzab mit 9:8 Stimmen zum Betriebsrat gewählt. Seitdem hat sich vieles zum Besseren in der Eimsbütteler Filiale verändert. Dienstpläne werden abgestimmt und rechtzeitig ausgehängt, es gibt klare Pausenregelungen und eine gerechte Verteilung der Mehrarbeitsstunden auf alle Kolleginnen und Kollegen. »Früher hat der Filialleiter allein und oft willkürlich entschieden«, sagt Tayeb Azzab. Nun kommen die Vorgesetzten nicht mehr an den Rechten der Belegschaft vorbei.

Lidl-Prinzip - einschüchtern und verunsichern

Ein Beispiel, das ausstrahlt - sollte man meinen. Doch nach wie vor sind viele Lidl-Beschäftigte verunsichert und wagen nicht, einen Betriebsrat zu wählen. »Sicher unterhalten sich Kolleginnen untereinander über dieses Thema«, sagt André Kretschmar vom Hamburger ver.di-Lidl-Projekt. »Doch nach außen verteidigen die meisten die Praktiken ihrer Firma sogar.« Nicht erst seit Bekanntwerden der Bespitzelung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern durch Überwachungskameras und Detekteien ist das Unternehmen für seine arbeitnehmerfeindlichen Praktiken bekannt. Das »Schwarz-Buch Lidl« der Dienstleistungsgewerkschaft dokumentiert umfassend die Zustände beim Discounter. Wenig Personal, viel Arbeit, massiver Druck - auf diese Formel lassen sich die Berichte von Lidl-Verkäuferinnen bringen. Unbotmäßige, ältere und vermeintlich zu langsam Arbeitende wurden per Aufhebungsvertrag auf die Straße gesetzt. Unbezahlte Überstunden, Arbeiten ohne Pause,
»Feuerwehreinsätze« an freien Tagen: auch das eher die Regel als die Ausnahme. Nach der Veröffentlichung des Buches besserte sich zwar für kurze Zeit einiges, die wichtigsten Elemente des »Systems Lidl« blieben: zu knapp bemessenes Personal für die Filialarbeit und die Verhinderung von Betriebsratswahlen.

Überwachungskameras vom Betriebsrat abgelehnt

»Lidl will keine Mitbestimmung im Unternehmen«, weiß Ulrike Schramm de Robertis, die ebenfalls zu den wenigen Lidl-Betriebsräten gehört. Sie leitet zugleich eine Filiale des Discounters in Bamberg. »Wir haben viel erreicht, trotz aller Widerstände«, berichtet sie. Bezahlte Überstunden, Mitsprache bei der Planung der Arbeitseinsätze sind hier längst eine Selbstverständlichkeit. Und: »Als im Februar 2007 bei uns Überwa-chungskameras installiert werden sollten, haben Betriebsrat und Belegschaft das abgelehnt.« Ulrike Schramm de Robertis ist klar, dass sie den Vorgesetzten bei Lidl ein Dorn im Auge ist. »Diese Herren erk-lären offen, was sie von Betriebsräten halten: absolut nichts.« Die Bambergerin rechnet immer mit Angriffen auf ihre Arbeit. Einschüchtern lässt sie sich deshalb ebenso wenig wie ihr Betriebsratskollege Tayeb Azzab in Hamburg.

Lohndumping im Einzelhandel nicht nur bei Discountern

Wenn es um Arbeitsbedingungen und Arbeitnehmerrechte geht, sind auch andere Einzelhandelsunterneh-men nicht zimperlich. Etwa der Textildiscounter KiK. Susanne Berger (Name geändert) ist zwar gelernte Verkäuferin, wurde bei KiK jedoch als Aushilfe in einer Filiale in Westfalen eingestellt. »Vierzig Stunden monatlich wurden mir vertraglich garantiert. Wie viel es darüber hinaus für mich zu tun gab, wusste ich vorab nie.« Rund die Hälfte der KiK-Belegschaft besteht aus geringfügig beschäftigten Aushilfen. »Ich habe alle Arbeiten erledigt: Kassieren, Auspacken, Saubermachen. Dafür gab es 5,20 Euro Stundenlohn, aber weder Lohnfortzahlung bei Krankheit noch während des Urlaubs«, sagt Susanne Berger. Im Herbst 2007 hatte sie genug von der miserablen Bezahlung bei hohem Arbeitsdruck. Sie und einige andere Kolleginnen klagten vor dem Arbeitsgericht wegen Lohndumpings.
Nach Strafgesetzbuch (§ 291) und Bürgerlichem Gesetzbuch (§ 138) liegt Lohnwucher vor, wenn das ortsübliche Tarifentgelt um mehr als ein Drittel unterschritten wird. Laut Tarif hätte Susanne Berger 12,30 Euro erhalten müssen, bei Abzug eines Drittels 8,21 Euro. Da sie seit Beginn ihres Arbeitsverhältnisses bei KiK nie die gesetzlich garantierte Zahlung während des (Mindest-)Urlaubs erhalten hat, summiert sich ihre Forderung auf mehr als 10.000 Euro. Bisher hat das zuständige Arbeitsgericht noch nicht über die Klagen von Susanne Berger und ihren Kolleginnen entschieden.

Negativstandards- Trend im Einzelhandel

Discounter wie Lidl, KiK, Aldi und Schlecker haben Negativstandards gesetzt, die inzwischen auch Warenhäuser und Supermarktketten übernehmen. Ein Trend im Einzelhandel ist der schleichende Personalabbau: Laut aktuellen Branchendaten, die das Berliner WABE-Institut zusammenstellte, ging zwischen 1997 und 2007 die Gesamtzahl der Beschäftigten im Einzelhandel um mehr als 150.000 Mitarbeiterinnen und Mitar-beiter zurück. Deutlich hat sich die Beschäftigungsstruktur verändert: Allein zwischen 2003 und 2007 sank die Zahl der Vollzeit-Beschäftigten im Einzelhandel um 148.000 bzw. 10,5 Prozent, während es im selben Zeitraum bei den sozialversicherungspflichtigen Teilzeitstellen ein Plus um 31.800 (+5,9%) und bei den geringfügig bezahlten Beschäftigten um 33.000 Stellen (+4,9%) gab. Geringfügig entlohnte Beschäftigte ersetzten zunehmend Existenz sichernde Normalarbeitsverhältnisse - und das bei ausgeweiteten Ladenöff-nungszeiten und zunehmender Verkaufsfläche. Ein Skandal, der in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wird.
Mehr als fünf Millionen Beschäftigte in der Bundesrepublik arbeiten für Bruttostundenlöhne von weniger als 7,50 Euro - die meisten davon, 18,2 Prozent, im Einzelhandel. Fast zwei Drittel der Niedriglöhner sind Frauen. Selbst bei den wenigen Vollzeitbeschäftigten gibt es große Unterschiede zwischen den alten und den neuen Bundesländern.

Trotz hoher Gewinne kein neuer Tarifvertrag

Trotz exzellenter Gewinnentwicklung im Einzelhandel seit 2000 mauert die Arbeitgeberseite in der bereits ein Jahr dauernden Tarifrunde. Während ver.di zwischen 4,5 und 6,5 Prozent mehr Lohn fordert, bietet die Arbeitgeberseite 1,7 Prozent. Vor allem will sie die Zuschläge für Spät- und Wochenendarbeit drastisch kür-zen. Nach wochenlangen Streiks zahlen mittlerweile etliche Unternehmen freiwillig bis zu 3 Prozent mehr Entgelt. Doch der Abschluss eines neuen Tarifvertrages steht weiterhin aus.
»Es wird Zeit, dass mehr Beschäftigte ihre Angst über Bord werfen und sich engagieren«, meint die Bam-berger Lidl-Betriebsrätin Ulrike Schramm de Robertis, die sich mit ihren Kolleginnen mehrfach an Streiks beteiligt hat. »Ohne Gegenwehr werden sich die Arbeitsbedingungen kaum verbessern.«