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Kinderarmut ist nicht naturgegeben

Im Wortlaut von Norbert Müller,

 

Von Norbert Müller, kinder- und jugendpolitischer Sprecher der Fraktion und derzeitiger Vorsitzender der Kinderkommission des Deutschen Bundestages

 

Der Kinderschutzbund rechnet mit bis zu 4,5 Millionen armen Kindern im Jahre 2030. Tritt dieses Szenario ein, handelt sich dabei nahezu um eine Verdoppelung des Status Quo. Ich möchte mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie unsere Städte und Gemeinden dann aussehen. Mir reicht der Ist-Zustand von 2,5 Millionen armen Kindern vollkommen aus.

Aus diesem Grund habe ich mich entschieden, in meiner Vorsitzzeit in der Kinderkommission des Deutschen Bundestages das Thema Kinderarmut auf die Agenda zu setzen. Wir werden in fünf Anhörungen mit Expert/-innen und Betroffenen uns über Ursachen und Auswirkungen von Kinderarmut informieren sowie über Auswege aus der Kinderarmut diskutieren. Wir möchten, dass sich die Vertreter der anderen Fraktionen diesem Thema nicht entziehen können.

Hinter der Zahl von 2,5 Millionen armen Kindern stehen ebenso viele Einzelschicksale und Familien, die tagtäglich ihren Überlebenskampf führen in einer oftmals als feindlich empfundenen Umgebung. Sie sind regelmäßig vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen, zu oft ohne Perspektive auf Besserung, bleiben unter sich und haben keine Lobby. Wir müssen uns genau anschauen, was das für die Betroffenen bedeutet.

Die erste Anhörung am 24. Februar beschäftigte sich mit den Eckpunkten von Kinderarmut. Wir haben die Daten des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), vorgetragen von Silke Tophoven, zur Kenntnis genommen: 8,9 Prozent der Kinder seien arm trotz Hartz IV-Leistungen. 4,5 Prozent der Kinder bekämen Hartz IV, aber gälten rein rechnerisch nicht als arm. 10,8 Prozent der Kinder lebten in Armut und würden durch Hartz IV nicht erreicht. Das sind insgesamt ein Viertel aller Kinder. Wir haben von Dr. Eric Seils vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut der Hans Böckler Stiftung (WSI) erfahren, dass über 40 Prozent der Alleinerziehehendenfamilien Armut drohe. Auch Kinder mit eigener Migrationserfahrung und mit Migrationshintergrund in der Familie seien überproportional von Armut bedroht. Zudem verteile sich Armut ungleich und sei besonders häufig anzutreffen in Teilen von Nordrhein-Westfalen, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Bremen und Berlin.

Cornelia Kavermann von der AG Soziale Brennpunkte aus Bottrop (AGSB Bottrop e.V.) berichtete aus ihrem Stadtteil und ihren Einrichtungen, Armut sei keine Episode, sondern Normalzustand. In ihrer Kita kämen zehn von elf Kindern aus Familien im Hartz IV-Bezug. Defizite in der Ausstattung an Kleidung, Schuhen und später Schulmaterialien seien zu beheben sowie den Kindern andere Horizonte zu eröffnen. Wichtig dabei sei, die Familien mitzunehmen u.a. durch Beratung und Unterstützung. Bei allem mangele es an Geld: den Familien, den Trägern, der Kinder- und Jugendhilfe, der Schule. Und nicht zuletzt mangele es an Perspektiven. Eine massive Zunahme an psychischen Erkrankungen sei zu beobachten. Einen Einblick in die Situation in Potsdam und von Familien in Obdachloseneinrichtungen gab uns Angela Basekow von der Arbeiterwohlfahrt (AWO) Potsdam. Kinder und Familien würden sich in den Ferien lediglich im drei Kilometer-Radius bewegen, Hobbys seien unterentwickelt und sie erhielten zu wenig Unterstützung im Schulsystem. Problematisch sei das restriktive Hartz IV-System mit seinen Sanktionen, die immer auch die Kinder betreffen. Bei Hartz IV-Sanktionen würden die Familien ohne die Hilfe der Tafeln Hunger leiden.

Damit wurde bereits deutlich, womit wir uns in den kommenden Sitzungen vertieft beschäftigen werden, nämlich welche Unterstützung Familien brauchen, um aus der Armut herauszukommen. Für die beiden Praktikerinnen ging es dabei um Zugang zu Bildung, Kultur, Sport – unabhängig von der finanziellen Situation der Eltern –, einer besseren finanziellen Ausstattung der Kinder- und Jugendhilfe und mehr Geld für die Familien. Man müsse dabei auch immer die Familie als Ganzes betrachten.

In der nächsten öffentlichen Sitzungen der Kinderkommission am 16. März steht die ungleiche Vermögensverteilung mit den daraus resultierenden Folgen auf der Tagesordnung. Im Anschluss wird es um Bildung und Gesundheit gehen, um in den letzten Sitzungen einzelne Bausteine zur Bekämpfung von Armut näher zu betrachten.

Auch abseits der Kinderkommission arbeiten wir seit längerem an einem ausgefeilten Konzept zur Reduzierung von Kinderarmut. Kinderarmut ist nicht naturgegeben, wie man uns immer wieder sagt. Es liegt an der Politik, die Weichen zu stellen und Rahmenbedingungen zu verändern.

 

Anmerkung der Redaktion: Die Sitzungen der Kinderkommission sind in der Regel öffentlich. Wer Interesse hat, kann sich auf der Seite des Bundestages unter der dort angegebenen E-Mail-Adresse oder telefonisch für die Teilnahme an den Sitzungen anmelden.

 

linksfraktion.de, 1. März 2016