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Kampf gegen die Kontrollgesellschaft wird zentrale Aufgabe emanzipativer Politik

Im Wortlaut von Jan Korte,

Von Jan Korte, Datenschutzbeauftragter der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag
 





Nahezu täglich kommen durch die Materialien des Whistleblowers Edward Snowden neue Fakten über die Dimension des millionenfachen und automatischen Abhörens und Abgreifens von Kommunikationsdaten zu nachrichtendienstlichen Zwecken ans Licht. Der Skandal um den Missbrauch von Kommunikationsdaten, der Anfang Juni mit den Stichworten "PRISM" und "Tempora" offenbar wurde, zeigt die Totalität des nachrichtendienstlichen Zugriffs auf die alltägliche Kommunikation der Menschen.

Vor wenigen Tagen hat die brasilianische Präsidentin Dilma Rousseff in einer Rede vor der UNO das Problem "NSA" und internationale Beziehungen auf den Punkt gebracht. Anders als die Bundesregierung sprach Frau Rousseff US-Präsident Obama direkt an und stellte konkrete Forderungen, zum Beispiel den Schutz von Meinungsfreiheit, Privatsphäre und Menschenrechten im Internet sowie die Gewährleistung von Netzneutralität. So kann es aussehen, wenn ein Staatsoberhaupt das Problem verstanden hat und handelt!

Ähnliches fordern auch die Datenschützer des Bundes und Länder als ein Ergebnis ihrer gemeinsamen Konferenz am 2. Oktober 2013. In ihrer Erklärung setzen sie sich für ein internationales Abkommen mit globalen Standard zum Schutz personenbezogener Daten. Konkret schlagen die Datenschützer ein Zusatzprotokoll zu Artikel 17 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte vor. Damit sollen willkürliche oder rechtswidrige Eingriffe in Privatleben, Familie, Wohnung und Schriftverkehr verboten und das Recht des Einzelnen auf Schutz vor solchen Eingriffen festgeschrieben werden. Und an anderer Stelle fordern sie dort die Verantwortlichen des Bundes und der Länder auf, „nationales, europäisches und internationales Recht zu ändern, verfassungswidrige nachrichtendienstliche Kooperationen abzustellen, die Kontrolle der Nachrichtendienste zu intensivieren, Initiativen zum Schutz der informationellen Selbstbestimmung und des Grundrechts auf Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme zu starten“.

Bis über die Schlapphutkrempe im Spitzelsumpf

Die Bundesregierung wedelt dagegen mit Erklärungen der NSA und des britischen Geheimdienstes GHCQ, wonach schon alles rechtens sei. Und Merkel hat natürlich einen guten Grund für ihre Passivität: Die deutschen Geheimdienste stecken bis über die Schlapphutkrempe mit im Spitzelsumpf. Seit vielen Jahren arbeiten Bundesnachrichtendienst (BND) und Bundesamt für Verfassungsschutz eng und verlässlich mit der NSA und GHCQ bei der umfassenden Kontrolle der Kommunikation der Bevölkerung zusammen.

Die von der Bundesregierung bisher angewandten Aufklärungsmethoden – Fragebögen an die Regierungen der USA, Großbritannien und einige Telekommunikationsunternehmen, Regierungsgespräche und briefliche Zusicherungen über die Einhaltung von Gesetzen – konnten die aufgeworfenen und für demokratische Gesellschaften kritischen Fragen nicht ansatzweise klären.

Die geheimen und teilweise mit Druck durchgesetzten Absprachen mit den Telekommunikationsunternehmen zur Kooperation im In- und Ausland, die dann wiederum selbst zur Geheimhaltung verpflichtet wurden, sind Anzeichen für Allmachtsansprüche der Nachrichtendienste, die weder durch die vorliegenden Bedrohungsanalysen begründet noch in ihrem Ausmaß mit geltenden Gesetzen gerechtfertigt werden können. Auch in diesem Missbrauch staatlicher Macht gegenüber Privaten, die zur Kollaboration verpflichtet werden, droht die Zersetzung demokratisch-rechtsstaatlicher Grundregeln.

Schwere Beschädigung der Demokratie
 

Der Widerspruch zwischen der wiederholten öffentlichen Erklärung, es sei nunmehr alles aufgeklärt, und den Schlagzeilen in den nächsten Tagen über neue, noch umfassendere Abhörmaßnahmen, fördert die berechtigte Sorge um die Gültigkeit von Menschen- und Bürgerrechten in der Europäischen Union und in den internationalen Beziehungen, besonders zwischen der EU und den USA sowie Großbritannien. Die Bundesregierung sei gegenüber den Nachrichtendiensten entweder hilflos oder habe eigene Interessen an der Verschleierung der tatsächlichen Situation – diese Alternative gewinnt zunehmend an Überzeugungskraft. Beide Varianten wären allerdings Symptome einer schweren Beschädigung der Demokratie.

Die schonungslose öffentliche Aufklärung der tatsächlichen Praxis der Nachrichtendienste, die umfassende Überprüfung der geltenden nationalen und internationalen Rechtsgrundlagen und die Bereitschaft, die umfassende Geltung von Menschen- und Bürgerrechten im Bereich der Telekommunikation wiederherzustellen, müssen Voraussetzung sein für jedes weitere Gesetz, jedes neue Abkommen und jede Neuverhandlung bisher geltender Abkommen wie PNR (Fluggastdaten), SWIFT (Bankdaten), "Safe-Harbour" und vielen anderen.

DIE LINKE fordert daher von der neuen Bundesregierung zu allererst, endlich eigenständige, unabhängige, sachverständige Untersuchungen zu der tatsächlichen Praxis der nachrichtendienstlichen Zugriffe auf die Kommunikation europäischer Bürgerinnen und Bürger einzuleiten. Über die Erkenntnisfortschritte müssen Parlament und Öffentlichkeit kontinuierlich informiert werden.


DIE LINKE fordert, an diesen Prüfungen den Whistleblower Snowden zu beteiligen und ihm zu diesem Zweck Asyl nach § 22 des Aufenthaltsgesetzes zu gewähren. Visum und Einreise sind danach problemlos möglich, wenn das Bundesinnenministerium zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland die Aufnahme erklärt hat. Weitere Forderungen der LINKEN nennt ein Antrag, den DIE LINKE Anfang September in den Bundestag eingebracht hat.

Der dringend erforderliche Paradigmenwechsel in der deutschen und europäischen Innen- und Sicherheitspolitik wird allerdings mit der wahrscheinlichen Koalition von Union und SPD oder einer ebenfalls möglichen Schwarz-Grünen Bundesregierung in weite Ferne rücken. Nur ein von breiten Teilen der Gesellschaft getragenes Mitte-links-Projekt böte die Chance darauf, dass die persönliche und individuelle Entfaltung der Bürgerinnen und Bürger und nicht ihre permanente anlasslose Kontrolle zur politischen Richtschnur würde. Daran zu arbeiten wird eine der Aufgaben der LINKEN in der nächsten Wahlperiode.

linksfraktion.de, 4. Oktober 2013