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Ist Wohnen (etwa) auch systemrelevant?

Im Wortlaut von Heidrun Bluhm-Förster,

Beitrag zur Serie »Was ist systemrelevant?«

Von Heidrun Bluhm, wohnungspolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag




Ich kann mich noch dunkel an ein paar Liedtextzeilen von Reinhard Lakomy, einem in der DDR sehr populären Liedermacher aus den 1980er Jahren, erinnern.

Die gingen ungefähr so: "Bis 1990 – sagt die Partei – sind wir alle wohnungssorgenfrei." Und tatsächlich: Für den Staat DDR war Wohnen eine hochpolitische Frage mit größter Priorität. Sie war systemrelevant! Ich will nicht so weit gehen, zu sagen, dass die ungelöste Wohnungsfrage die Ursache für den Zusammenbruch der DDR war, aber sie war, wie so viele nicht eingelöste Versprechen mindestens ein Nagel am Sarg!

Systemrelevant ist die Wohnungsfrage auch heute in der Bundesrepublik Deutschland – nur dass die jetzige Regierung, wie auch ihre Vorgängerregierungen, das nicht erkennt oder nicht wahr haben will.

Dabei werden die Probleme in der Wohnungsversorgung seit Jahren immer vielfältiger, drängender und offensichtlicher.

Aus den großen Wohnungsunternehmen und gerade aus der kleinteiligen privaten Wohnungswirtschaft kommen immer häufiger hilfesuchende Warnungen, dass die  in Verordnungen und Rechtsvorschriften gegossenen Maßstäbe und Forderungen an den Wohnungsbau und den Gebäudebestand mit den herkömmlichen Mitteln nicht mehr zu bewältigen seien.

Sie sind innerhalb der bestehenden Marktverhältnisse nicht mehr finanzierbar.

Wohnen als Ware oder Grundrecht

Genau das ist das Dilemma:
Wohnen ist ein Grundbedürfnis aller Menschen. Die LINKE will, dass dieses Grundbedürfnis als einklagbares Recht in den Menschenrechtskatalog des Grundgesetzes aufgenommen wird.
Die Parteien der gegenwärtigen Regierungskoalition beharren darauf, dass das Bedürfnis nach Wohnen auf dem Wohnungsmarkt zu befriedigen ist. Die Wohnung (besser gesagt : das Wohnen, denn dazu gehört mehr als vier Wände und ein Dach) soll also eine ganz gewöhnliche Ware sein, die Mieterinnen und Mieter sind die Nachfrager und die Vermieterinnen und Vermieter sind die Anbieter.

Aber die heutigen und erst recht die künftigen quantitativen und qualitativen Anforderungen an das Wohnen passen einfach nicht mehr mit den Vorstellungen von Marktregulierung aus den 1950er und 60er Jahren zusammen. Der größte Teil des Wohnungsbestandes in Deutschland stammt noch aus einer Zeit, wo die Leute vor allem ein Dach über dem Kopf brauchten, und der idealtypische Mieter eine Vater-Mutter-Kind Familie war, die jahrelang in der selben Wohnung lebte.

Von der heutigen Vielfalt der Lebensformen und Lebensentwürfe hatte man in den ersten vier Jahrzehnten der Bundesrepublik und natürlich auch in der DDR keine Vorstellung. Demografischer und klimatischer Wandel waren abstrakte Theorien, die bestenfalls in akademischen Kreisen diskutiert wurden.

Aber gerade in dieser Zeit und unter diesen Voraussetzungen hat sich der Wohnungsmarkt in Deutschland herausgebildet und sich in seiner Struktur und seinem Selbstverständnis im Wesentlichen bis heute erhalten.

Von den rund 24 Millionen Mietwohnungen in Deutschland werden 61 Prozent von Privaten Kleinanbietern gehalten. Unter den professionellen Wohnungsanbietern sind wiederum 17 Prozent privatwirtschaftliche, aber nur je neun Prozent kommunale und genossenschaftliche Wohnungsanbieter zu finden.

Wenn man unterstellt, dass lediglich die Genossenschaften nicht zuvorderst Profitinteressen verfolgen, sondern der Förderung ihrer Mitglieder verpflichtet sind, heißt das, dass 91 Prozent der Mietwohnungen (auch die kommunalen) in erster Linie gewinnorientiert vermarktet werden und alle Ziele der Anbieter dem Gewinnstreben untergeordnet sind.

Reich baut für Reich

Generationengerechtes, barrierefreies, klimagerechtes, bedarfsgerechtes Bauen?
Ja, aber nur, wenn es sich rechnet!

Damit es sich rechnet, werden Milliarden aus öffentlichen Haushalten, also Steuergelder, in Form von Fördermitteln, Zinsvergünstigungen, Steuererleichterungen und Wohngeld als Objekt- oder Subjektförderungen in den privaten Wohnungsmarkt eingespeist. Ohne staatliches Eingreifen wäre der private Wohnungsmarkt längst zusammengebrochen oder auf einen verschwindend kleinen Teil geschrumpft. Die Tendenz "Reich baut für Reich" ist längst gesellschaftliche Realität.

Als "Realpolitiker" fordern wir LINKEN eine energische Aufstockung und Verstetigung der Städtebauförderung, des Sozialen Wohnungsbaus und des Wohngeldes, weil der gegenwärtige Staat nur auf diese Weise zur Abmilderung der sozialen Folgen von Wohnkostensteigerungen gezwungen werden kann.

Gleichzeitig wissen wir, dass die öffentlichen Mittel, die als Marktanreize in den privat dominierten Wohnungsmarkt fließen, eine weitere Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums von unten nach oben bedeuten und die objektiv notwendigen Ziele dennoch nicht erreicht werden können.
Was wir also perspektivisch brauchen und programmatisch einfordern müssen, ist eine grundlegende Veränderung des sozialökonomischen Charakters der Wohnungswirtschaft und zu diesem Zweck eine Reformierung der Eigentumsverhältnisse im Immobilienbereich.

Wir brauchen eine deutliche Stärkung des Anteils der kommunalen und genossenschaftlichen Wohnungswirtschaft, wobei die Kommunen sich noch entscheiden müssen, ob sie ihre Wohnungsunternehmen als Einnahmequelle für den Kommunalhaushalt oder als Daseinsvorsorger sehen wollen. Die Genossenschaften als traditionell solidarische Wirtschaftsform haben gerade im wohnungswirtschaftlichen Bereich großes Entwicklungspotential.

Mitgliedschaft in einer Genossenschaft fördern

Das Grundprinzip, dass mit dem Wohnen nicht Gewinnerzielung, sondern die sichere Versorgung der Genossenschaftsmitglieder mit bedarfsgerechtem Wohnraum im Focus der wirtschaftlichen Betätigung einer Genossenschaft liegt, entspricht unserer Auffassung von Daseinsvorsorge.
Um das Vorsorgeprinzip weiter zu stärken und die Genossenschaften darauf zu verpflichten, müssen sie auf einer neuen gesetzlichen Grundlage eine neue Gemeinnützigkeit entfalten. Das Betätigungsfeld von Wohnungsgenossenschaften muss künftig auf weitere Felder der Wohnungswirtschaft, wie der dezentralen Energieversorgung, den Personennahverkehr oder des Betreuten Wohnens ausgeweitet werden. Die Mitgliedschaft in einer Genossenschaft sollte politisch als Form der Existenz- und Altersvorsorge anerkannt und entsprechend gefördert und geschützt werden. Der Markt  versagt vor den veränderten Anforderungen an Städtebau und Wohnungswirtschaft. Er muss deswegen nicht völlig verschwinden, aber seine Dominanz muss abgelöst werden von einer systemrelevanten Größe und Qualität der öffentlich und genossenschaftlich betriebenen Stadtentwicklung und Wohnungsversorgung.

linksfraktion.de, 26. Oktober 2012


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