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Informationelle Notwehr gegen Vertuschung

Im Wortlaut von Paul Schäfer,

Paul Schäfer, verteidigungspolitischer Sprecher der Fraktion DIE LINKE, über die auf Wikileaks veröffentlichten Kriegsprotokolle der USA und die Konsequenzen für die deutsche Politik

Wie bewerten Sie die Veröffentlichung geheimer US-amerikanischer Einsatzprotokolle im Internet und in internationalen Medien?

Das war ein wichtiger und richtiger Beitrag zur gesellschaftlichen Debatte über den Afghanistankrieg. Die Öffentlichkeit hat einen Anspruch darauf zu erfahren und zu diskutieren, was die Regierung in ihrem Namen so treibt, gerade in existenziellen Fragen wie der nach Krieg und Frieden. Wenn Regierungen davor Angst haben und sich - wie die Bundesregierung im Fall Afghanistan - im Graubereich zwischen Geheimniskrämerei und Vertuschung herumdrücken, sind solche unautorisierten Veröffentlichungen informationelle Notwehr.

Haben Sie etwas Neues aus den Dokumenten erfahren?

Es geht um einen ziemlich großen Aktenberg, und derzeit sind wir noch mit der Auswertung beschäftigt. Bereits jetzt lässt sich aber festhalten, dass die Bundesregierung völlig unzureichend informiert hat - sei es über die Tötungskommandos der USA, sei es über die mutmaßlichen Verwicklungen des pakistanischen Geheimdienstes. Und natürlich ist das große Bild, dass sich aus all den kleinen Meldungen über Anschläge, Gefechte, Bedrohungen und die allgemeine Stimmung in Afghanistan ergibt, ein miserables Zeugnis für die militärfixierte Strategie der USA, der Bundesregierung und ihrer Verbündeten.

Das Verteidigungsministerium sagt, all diese Informationen seien ohnehin bekannt gewesen.

Die Zahlen über Verluste und Anschläge im deutschen Sektor sind tatsächlich nicht neu. Sie finden sich auch in Antworten der Bundesregierung auf Kleine Anfragen der Fraktion DIE LINKE. Jenseits des deutschen Sektors hat die Bundesregierung indessen bisher oft behauptet, keine Statistiken zur Verfügung zu haben. Jetzt können wir sagen: Wir brauchen die Statistiken der Bundesregierung nicht, wir können eigene aufstellen. Und auch dort bestätigt sich, was man im deutschen Sektor beobachten kann: Mehr Militär führt zu mehr Blut, aber nicht zu mehr Frieden.

Dass die amerikanische Spezialeinheit »Task Force 373« im deutschen Verantwortungsbereich operiert, war gleichfalls grundsätzlich bekannt - das haben wir aber übrigens auch nicht vom Verteidigungsministerium, sondern aus den Medien erfahren. Danach hat die Regierung versucht, die Aufgaben der Task Force kleinzureden. Es gehe um Aufklärung und Ergreifung von Talibanführern, hieß es. Entschuldigung: Wenn man fünf Raketen in ein Haus jagt, ist das weder Aufklärung noch ein Festnahmeversuch. Das ist eine gezielte Tötungsmission. Ob und inwiefern die Bundeswehr sich an solchen Aktionen mittelbar oder unmittelbar beteiligt hat, muss dringend aufgeklärt werden.

Welche Konsequenzen ziehen Sie aus den neuen Informationen?

Zunächst muss die Bundesregierung die Fehlentwicklungen und Vertuschereien, die sich in den Kriegsjahren angehäuft haben, aufarbeiten und öffentlich diskutieren. Um das voranzutreiben, hat mein Fraktionskollege Wolfgang Gehrcke in einem Brief an Außenminister Westerwelle um eine Stellungnahme der Bundesregierung zu den veröffentlichten Dokumenten gebeten. Ich selbst habe in schriftlichen Fragen an die Bundesregierung Aufklärung über Zuarbeit der Bundeswehr für das Tötungskommando »Task Force 373« gefordert. Wir werden auch darauf drängen, dass Obleute und Ausschüsse künftig umfassender informiert werden. Insgesamt bestärken mich die Dokumente in der Einschätzung, dass der Afghanistankrieg militärisch nicht zu gewinnen ist. So langsam sollte das auch die Bundesregierung einsehen, die Bundeswehr abziehen und sich auf eine diplomatische Lösung, die Aushandlung eines Waffenstillstandes und die Unterstützung eines innerafghanischen Friedens- und Versöhnungsprozesses konzentrieren.

linksfraktion.de, 28. Juli 2010