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Immer weniger Beschäftigte durch Tarifvertrag oder Betriebsrat geschützt

Nachricht von Jutta Krellmann,

Auswertung der Antwort der Bundesregierung (PDF) auf die Kleine Anfrage „Bestandsaufnahme des deutschen Tarifvertragssystems“ (BT-Drs. 18/13181) von Jutta Krellmann u.a. und der Fraktion DIE LINKE im Bundestag

Zusammenfassung:

Nur noch knapp jeder dritte Betrieb in West- und gerade einmal jeder fünfte Betrieb in Ostdeutschland ist tarifgebunden. Das geht aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage von Jutta Krellmann und der Fraktion DIE LINKE hervor. In Westdeutschland ist die Tarifbindung der Betreibe im Vergleich zu Ostdeutschland stärker gesunken. So lässt im Westen die Tarifbindung der Betriebe im Vergleich zu 2009 nach: Handel minus 9 Prozent-Punkte – damit hat mehr als jeder Dritte 2009 tarifgebundene Arbeitgeber die Tarifbindung gekündigt (36 Prozent) –, Bau- und Gastgewerbe minus 8 Prozent-Punkte und das Verarbeitende Gewerbe minus 7 Prozent-Punkte. In West fällt damit nur noch jeder zweite Arbeitnehmer (51 Prozent) und in Ost jeder dritte Arbeitnehmer (36 Prozent) unter einen Branchentarifvertrag.

Immer weniger Allgemeinverbindlichkeitserklärungen von Tarifverträgen stützen das Tarifvertragssystem. Zwischen 2000 und 2005 gab es auf Bundesebene 376 Erlasse auf Allgemeinverbindlichkeit. Zwischen 2011 und 2017 hat sich die Zahl mit 166 Erlassen mehr als halbiert. Von den rund 73.000 als gültig in das Tarifregister eingetragenen Tarifverträgen sind zurzeit 443 und damit weniger als 1 Prozent allgemeinverbindlich.

Es verwundert, dass die Bundesregierung der Auffassung ist, dass eine Erosion des Systems der Branchen- bzw. Flächentarifvertrags nicht zu beobachten ist. So sei die Zahl der Flächentarifverträge zwar rückläufig. Allerdings weist die Zahl der Tarifverträge insgesamt in den letzten Jahren eine steigende Tendenz auf. Dies kann durch die Auswertung nicht bestätigt werden. So fallen 2016 unter Firmentarifverträge im Vergleich zu 2009 in West 8 Prozent und in Ost 11 Prozent der Beschäftigten- das sind 2 bzw. 3 Prozentpunkte weniger als 2009.

In knapp jedem zehnten (9 Prozent) Betrieb mit über fünf Beschäftigten gibt es 2016 einen Betriebsrat (-1 Prozent Punkt zu 2009). Damit fallen gerade einmal zwei von fünf Beschäftigten (41 Prozent) unter die Betriebliche Mitbestimmung der Betriebsverfassung (-4 Prozent-Punkte zu 2009). Die Branche Gesundheit/Erziehung/Unterricht ist die einzige, welche seit 2009 einen Zuwachs der Betriebe mit Betriebsratsgremium (+3 Prozent-Punkte auf 13 Prozent) verzeichnen kann. Damit hat fast die Hälfte (46 Prozent) der Beschäftigten (+6 Prozent-Punkte zu 2009) einen Betriebsrat.

Jutta Krellmann, gewerkschaftspolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE im Bundestag:

„Die Arbeitgeber haben in weiten Teilen den sozialen Kompromiss aufgekündigt, und die Bundesregierung will von all dem nichts wissen. Der tarifpolitisch gut regulierte Kern wird immer kleiner und die tarifschwachen und -freien Zonen immer größer. Es ist auch Aufgabe der Politik, Beschäftigte vor unangemessen niedrigen Löhnen zu schützen. Der Wettbewerb darf nicht über die schlechtesten Arbeitsbedingungen, sondern muss über die Produkte ausgetragen werden. Das 2015 in Kraft getretene Tarifstärkungsgesetz von Ministerin Nahles springt zu kurz und muss weiterentwickelt werden. Wenn sich z.B. die Tarifparteien einig sind, darf es kein Vetorecht von anderen Arbeitgeberverbänden geben, wie das jetzt der Fall ist. Klar ist aber auch, dass nur starke Gewerkschaften den Arbeitgebern gute Arbeitsbedingungen und höhere Löhne abringen können. Es liegt also auch an den Beschäftigten, ob sie zusammen oder alleine kämpfen. Nur eine organisierte Belegschaft und Betriebsräte, die Mitbestimmung und Teilhabe einfordern, können die Spirale der Schmutzkonkurrenz nach unten aufhalten. Um die Spaltung der Belegschaften zu stoppen, müssen Betriebsräte das Recht erhalten, in allen wirtschaftlichen Fragen effektiv mitzubestimmen. Der Einsatz von Leiharbeit und Werkverträgen ist in jedem Fall von der Zustimmung des Betriebsrates abhängig zu machen.“

Ergebnisse im Einzelnen:

  • Erlasse zu Anträgen auf Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags auf Bundesebene: Zwischen 2000 – 2005 gab es 376 Erlasse und zwischen 2011 und 2017 sind es 166. Damit hat sich die Anzahl der Erlasse mehr als halbiert (-66 Prozent). [Antwort 1, S.3-9]
  • Wurden im Handel 2000 noch 13 AVEs erlassen, so gibt es hier seit 2009 keine Anträge mehr. [Antwort 1 S.6]
  • Nach Angaben aus der Streikstatistik gab es 2016 rund 210.000 Ausfalltage aufgrund von Arbeitskampfmaßnahmen. 200.000 davon in West und 10.000 in Ost. [Antwort 13 S.24]
  • Von den rund 73.000 als gültig in das Tarifregister eingetragenen Tarifverträgen sind zurzeit 443allgemeinverbindlich. [http://www.bmas.de/DE/Themen/Arbeitsrecht/Tarifvertraege/allgemeinverbindliche-tarifvertraege.html ]

Tarifbindung 2016 im Vergleich zu Tarifbindung 2009 (Veränderungen in Prozentpunkten) [Antwort 17, S.26; Tabelle 17 und 24]

  • 29 Prozent der Betriebe in Westdeutschland fallen 2016 unter einen Branchentarifvertrag (-7 Prozent). Damit fallen 51 Prozent aller Beschäftigten im Westen unter einen Branchentarifvertrag (-5 Prozent). 68 Prozent der Betreibe sind nicht tarifiert (+7 Prozent). 42 Prozent der Beschäftigten fallen nicht unter einen Tarifvertrag (+6 Prozent).
  • 19 Prozent der Betriebe in Ostdeutschland fallen unter einen Branchentarifvertrag (=0 Prozent). Damit fallen 36 Prozent aller Beschäftigten im Osten unter einen Branchentarifvertrag. (-2 Prozent). 79 Prozent der Betriebe sind nicht tarifiert (+2 Prozent). 48 Prozent der Beschäftigten fallen nicht unter einen Tarifvertrag (+1 Prozent)
  • Unter Firmentarifverträge fallen 2016 in West 8 Prozent (-2 Prozent) und in Ost 11 Prozent (-3) der Beschäftigten.

Einzelne Wirtschaftszweige 2016 im Vergleich zu 2009 (Veränderungen in Prozentpunkten) [Antwort 17, Tabelle 24 und 17]

  • Handel: 2016 fallen 25 Prozent der Betreibe im Westen (-9 Prozent) und 15 Prozent der Betriebe im Osten (+1 Prozent) unter einen Branchentarifvertrag. 2016 fallen 36 Prozent der Beschäftigten in West (-12 Prozent) und 23 Prozent der Beschäftigten in Ost (-1 Prozent) unter einen Branchentarifvertrag. Hatten 2009 in West und Ost 3 Prozent der Betriebe einen Firmentarifvertrag sind es 2016 noch 2 Prozent)
  • Gastgewerbe: 2016 fallen 26 Prozent der Betreibe im Westen (-8 Prozent) und 9 Prozent der Betriebe im Osten (-4 Prozent) unter einen Branchentarifvertrag. 2016 fallen 39 Prozent der Beschäftigten in West (-7 Prozent) und 23 Prozent der Beschäftigten in Ost (-3 Prozent) unter einen Branchentarifvertrag.
  • Verarbeitendes Gewerbe: 2016 fallen 29 Prozent der Betreibe im Westen (-7 Prozent) und 13 Prozent der Betriebe im Osten (-2 Prozent) unter einen Branchentarifvertrag. 2016 fallen 56 Prozent der Beschäftigten in West (-2 Prozent) und 19 Prozent der Beschäftigten in Ost (-6 Prozent) unter einen Branchentarifvertrag
  • Baugewerbe: 2016 fallen 53 Prozent der Betreibe im Westen (-8 Prozent) und 43 Prozent der Betriebe im Osten (+5 Prozent) unter einen Branchentarifvertrag. 2016 fallen 63 Prozent der Beschäftigten in West (-12 Prozent) und 58 Prozent der Beschäftigten in Ost (+7 Prozent) unter einen Branchentarifvertrag.
  • Die Bundesregierung ist der Auffassung, dass eine Erosion des Systems der Branchen bzw. Flächentarifvertrags nicht zu beobachten ist. So sei die Zahl der Flächentarifverträge zwar rückläufig. Allerdings weist die Zahl der Tarifverträge insgesamt in den letzten Jahren eine steigende Tendenz auf. [Antwort 18. S.27]
  • Tarifbindung und Leiharbeit: Im Vergleich zu 2007 gab es 2016 insgesamt 533.000 Leiharbeiter in der Gesamtwirtschaft (-11,4 Prozent). 2007 wurden 68.5 Prozent der Leiharbeiter von einem Tarifvertrag erfasst, 2016 sind es noch 61,5 Prozent der Leiharbeiter (-7 Prozent-Punkte oder -24 Prozent). [Antwort 19 S.26, Tab 25]
  • In Betrieben ohne Betriebs-/Personalrat ist die Anzahl der Leiharbeitskräfte seit 2007 um 34,3 Prozent gesunken. In Betrieben mit Betriebs-/Personalrat um 1 Prozent. [Antwort 19, S. 27, Tab 26]
  • In Betrieben ohne Tarifbindung arbeiten 16.891.000 Beschäftigte (+30 Prozent zu 2007). Der Anteil an befristeten Arbeitsverhältnissen liegt bei 6,5 Prozent (+38 Prozent zu 2007) Der Anteil von Teilzeitbeschäftigung liegt bei 32,7 Prozent (+68 Prozent zu 2007). [Antwort 20,Tab 28]
  • In Betrieben mit Tarifbindung arbeiten 21.827.000 Beschäftigte (+5,8 Prozent). Der Anteil an befristeten Arbeitsverhältnissen liegt bei 8 Prozent (+12,3 Prozent zu 2007). Der Anteil von Teilzeitbeschäftigung liegt bei 28,8 Prozent (+33,6 Prozent zu 2007). [Antwort 20, Tab 28]

Verbreitung eines Betriebsrates zwischen 2009 und 2016 in Betrieben mit min 5 Beschäftigten. Angaben in Prozentpunkten [Antwort 24; Tabelle 32-33]

  • 2016 hatten 9 Prozent aller Betreibe einen Betriebsrat (-1 Prozent) und 41 Prozent aller Beschäftigten fielen unter die Mitbestimmung nach Betriebsverfassungsgesetz (-4 Prozent).
  • Die Meisten Betriebsräte gibt es in der Branche Energie/Wasser/Abfall/Bergbau. 39 Prozent der Betreibe (-1 Prozent) haben einen BR und damit 82 Prozent der Beschäftigten (+4 Prozent).
  • Im Verarbeitenden Gewerbe gibt es in 15 Prozent der Betriebe Betriebsräte und damit fallen 66 Prozent der Beschäftigten unter die Betriebliche Mitbestimmung (-3 Prozent).
  • Im Baugewerbe wie im Gastronomiegewerbe gibt es in 3 Prozent der Betriebe einen Betriebsrat (-1 Prozent). 16 Prozent (-5 Prozent) im Bau und 12 Prozent (-2 Prozent) der Beschäftigten in der Gastronomie fallen unter die betriebliche Mitbestimmung (-5 Prozent).
  • Im Handel gibt es in 9 Prozent der Betriebe einen Betriebsrat. 28 Prozent der Beschäftigten fallen unter die Betriebliche Mitbestimmung (-5 Prozent).
  • Den stärksten Rückgang an Betriebsräten verzeichnet die Branche Finanz-/Versicherungsdienstleistungen. In 25 Prozent der Betriebe gibt es einen Betriebsrat (-14 Prozent) und 71 Prozent der Beschäftigten fallen unter die betriebliche Mitbestimmung.
  • Der einzige Beriech mit Zuwachs ist in der Branche Gesundheit/Erziehung/Unterricht zu finden. 13 Prozent der Betreibe (+3 Prozent) haben einen Betriebsrat und 47 Prozent (+6 Prozent) der Beschäftigten fallen unter die Mitbestimmung.