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"Ich war der reine Satan"

Im Wortlaut von Gregor Gysi,

In der Mediengesellschaft zählen Originalität, Schlagfertigkeit und spitze Thesen - von all dem liefert Gregor Gysi, Vorsitzender der Linkspartei, reichlich. Im Interview berichtet er über seine mediale Auf- und Abstürze.

Herr Gysi, als Kind synchronisierten Sie Filme und waren sehr stolz, wenn im Abspann Ihr Name auftauchte. Ansehen in der Schule verschafften Sie sich durch Ihr Unterhaltungstalent. Und als einer der wenigen Anwälte in der DDR nutzten Sie den Gerichtssaal als Ihre Bühne. Wer sich mit Ihrer Biografie beschäftigt, bekommt den Eindruck: Dieser Mann braucht den großen Auftritt.

Das klingt gut, stimmt aber nicht. Ein Gerichtssaal, um diesen Punkt herauszugreifen, war in der DDR keine Bühne. Es gab im Unterschied zur BRD kaum Verhandlungen, die durch alle Medien gingen. Bei den meisten Strafsachen kamen gerade mal die Angehörigen. Einmal habe ich eine Mörderin verteidigt, da war der Saal - ein großer Saal - voll mit Leuten, die diese Frau hassten. Alle, auch Staatsanwalt und Richter, waren von der ersten Sekunde an gegen mich. Also: Wenn der Gerichtssaal doch mal zur Bühne wurde, war das eher unangenehm.

Umso wohler scheinen Sie sich heute in Talkshows zu fühlen.

Ich sage nicht, dass ich uneitel bin. Ich rede zum Beispiel gern bei großen Kundgebungen. Aber im Augenblick sage ich den Medien beispielsweise öfter ab als zu. Sicher gab es Phasen, da verhielt es sich andersherum. In den frühen neunziger Jahren war ich stigmatisiert, da musste ein Journalist den Mut haben, mich überhaupt einzuladen. Damals bin ich in viele Talkshows gegangen, weil die PDS und ich in den Nachrichtensendungen nicht vorkamen. Ich habe die Auftritte als Ersatz genutzt.

Warum wurden Sie in dieser Phase der - wie Sie sagen - Stigmatisierung überhaupt von den Medien eingeladen und nicht einfach ignoriert?

Das ging wegen der Privatsender nicht. Hätten wir nur öffentlich-rechtlichen Rundfunk gehabt, wäre ich tatsächlich fallen gelassen worden. Tagesschau und heute brachten mich nur, wenn es einen Skandal um mich gab, nie wegen meiner politischen Inhalte. Aber die Privatmedien konnten sich das nicht leisten. Erich Böhme, der damals die Sendung Talk im Turm auf Sat.1 moderierte, hat das mit meiner Doppelwirkung erklärt. Die, die mich mochten, schauten zu - und die, die mich hassten, konnten auch nicht abschalten. So hatte er immer eine höhere Quote, wenn ich dabei war, sagte er.

Ist es nicht demütigend, in Talkshows zu gehen und zu wissen, die laden mich nur wegen der Quote ein?

So darf man nicht denken. Ich habe mir einen Beruf mit Sonnen- und Schattenseiten ausgesucht. Es gibt schöne Erlebnisse, zum Beispiel Kundgebungen mit Tausenden Leuten, die mir zuhören und Beifall spenden - ich denke, Guido Westerwelle hat das nie erlebt. Und dann gibt es blöde Erlebnisse. Einmal war ich zu einer Talkshow eingeladen, wollte nicht hin und habe eine Kollegin als Ersatz vorgeschlagen. Antwort: "Entweder Sie kommen, oder die PDS findet nicht statt." Also bin ich da hingedackelt, und die erste Frage war: "Wieso kennt man aus der PDS eigentlich nur Sie?" Natürlich war ich da sauer. Aber im Endeffekt habe ich keine Wahl: Ich wäre als Politiker fehlbesetzt, zöge ich mich aus den Medien zurück.

Das klingt nach erstaunlicher Zufriedenheit mit dem kapitalistischen Mediensystem.

Oh, nein. Mich stört eine ganze Menge. Ein kleines Beispiel: die Tendenz zu eins dreißig ...

... die maximale Länge eines Beitrags für Nachrichtensendungen wie der Tagesschau ...

...genau. Ich kann in einer Minute dreißig nicht erklären, wie ich die Arbeitslosigkeit wirksam bekämpfen will. Dann muss ich, dann muss jeder Politiker oberflächlich werden. Schlimm ist, dass ich etliche Politiker kenne, die gar nicht mehr länger als eins dreißig sprechen können.

Die Medien zwingen nicht nur zur Verknappung. Sie haben 2002 in einem Interview gesagt: "In dem Maße, wie Medien auf Unterhaltung setzen, setzen sie auch die Politik unter Druck, nämlich dahingehend, sie ohne Unterhaltung nicht zu verbreiten." Das ist ein echter Vorteil für den Entertainer Gysi, oder?

Ja, ich habe einen gewissen Humor, und insofern stört mich diese Anforderung nicht. Außerdem gibt es ein weit verbreitetes Missverständnis: Seriös sein bedeutet danach langweilig zu sein. Wenn man unterhaltend ist und angenehm sprechen kann, gilt man als nicht seriös. Eine merkwürdige Bewertung. Dröge zu sein, spricht doch nicht für Sachverstand. Dieses Missverständnis herrscht übrigens gerade auch in der Linken vor. Es gibt linke Bundestagsabgeordnete, die reden immer so, als seien sie selbst Sozialhilfeempfänger. Ich mache das nicht, denn ich bin ja keiner. Ich setze mich nur für deren Interessen ein.

Tun Sie das wirklich? Als Sie 2002 Wirtschaftssenator in Berlin waren, warfen Sie nach nur sechs Monaten das Handtuch. Ihr Biograf Jens König schreibt: "Gysi ist an Macht im herkömmlichen Sinne ohnehin nicht interessiert. Macht bedeutet für ihn nicht die Herrschaft über einen Apparat. Ihn interessiert höchstens die Macht über ein Publikum."

Ich bin damals zurückgetreten, weil ich einen Fehler gemacht hatte. Ich hatte dienstlich erflogene Bonusmeilen privat genutzt. Dieses Fehlverhalten konnte ich mir selbst nicht erklären, und das hat mich verunsichert. Also konnte ich nicht mehr weitermachen. Aber mir hat die Zeit als Senator Spaß gemacht, und ich habe auch einiges erreicht.

War das Affärchen um die Meilen wirklich das Motiv Ihres Rücktritts?

Wirklich. Im Übrigen: Nur ein Publikum zu betören, ist mir zu wenig. Es geht mir um echte Veränderung. Mir geht dieser neoliberale Zeitgeist auf die Nerven! Und Politik kann ja auf vielen Wegen Einfluss nehmen, das Beispiel der Grünen beweist es. Die waren viele Jahre nicht an der Macht, und trotzdem haben alle Parteien angefangen, ökologischer zu denken und zu entscheiden. Eben um zu verhindern, dass die Grünen an die Macht kommen. Wir, die Linkspartei, sind es nun, die die soziale Frage neu aufwerfen. Und plötzlich spricht sogar die Kanzlerin Angela Merkel von ihr. Es ist unsere Funktion, diese Frage zu artikulieren, weil es sonst niemand machte, weder im Bundestag noch im Fernsehen.

Ein Kommentator warf Ihnen einmal vor: "Gysis Geheimnis ist: Er bedient das unpolitische Bürgertum. Man muss sich zusammensetzen, fair verhandeln, vernünftig reden. Pure Als-ob-Politik." Zeichnen Sie in Talkshows ein falsches Bild von den Mechanismen der Politik und fördern so Frust und Politikverdrossenheit?

Erstens sehe ich es nicht als meine Aufgabe an, die Bürger mit der herrschenden Politik zu versöhnen - wieso sollte ich? Zweitens ist es meiner Ansicht nach nicht möglich, einfach so Frust zu erzeugen. Wenn die Menschen zufrieden wären, könnte ich erzählen, was ich wollte. Das Bedürfnis nach einer besseren Politik existiert ganz real in der Bevölkerung. Der Punkt ist ein anderer: Politik wird immer komplexer, egal ob auf nationaler, europäischer oder globaler Ebene. Das stellt die Politiker als Vermittler vor eine Aufgabe, die immer weniger von ihnen beherrschen.

Was ist das für eine Aufgabe?

Ein Politiker muss heute übersetzen können. Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Friedrich Merz von der CDU hat die Steuerreform des damaligen Kanzlers Schröder in einer Sprache kritisiert, die nur Steuerexperten verstehen. Ich habe es für die Bevölkerung dann so übersetzt: "Wenn ein Bäckermeister eine Filiale verkauft, muss er den vollen Steuersatz auf den Kaufpreis bezahlen. Wenn aber die Deutsche Bank ein Unternehmen aus ihrem Besitz verkauft, muss sie dafür überhaupt keine Steuern bezahlen." Das steckt in dieser Steuerreform, und so formuliert konnten das alle verstehen.

Ist es den Wählern nicht zuzutrauen, sich selbst ausreichend über Politik zu informieren?

Diese Sicht ist arrogant. Ich mache den ganzen Tag nichts anderes, als mich um Politik zu kümmern. Eine Verkäuferin kann das nicht. Die sitzt acht Stunden an der Kasse und schafft es abends vielleicht, zehn Minuten Nachrichten zu schauen.

Sie machen auch Politik in eigener Sache. Seit Jahren betreiben Sie eine juristische Abwehrschlacht gegen die Medien, um die Veröffentlichung von Stasi-Dokumenten zu verhindern. Dabei haben Sie in einer Diskussion im DDR-Fernsehen am 6. November 1989, also drei Tage vor Fall der Mauer, den DDR-Ministern vorgehalten: "Man kann nur etwas verstehen, wenn man informiert wird." Gilt das nicht auch für Sie?

Alle Dokumente über mich sind öffentlich. Es geht seit einem Jahr um drei Dokumente zu Robert Havemann. Stimmte ich einer Veröffentlichung dieser Dokumente zu, in denen Gespräche mit ihm erfasst sind, verstieße ich gegen meine anwaltliche Schweigepflicht. Das wäre ein Straftatbestand. Wenn die Gerichte das anders entscheiden sollten, übernehmen sie die Verantwortung. Die Medien, die sich wünschen, dass ich durch diese Dokumente als Informeller Mitarbeiter der Stasi enttarnt würde, wären aber fürchterlich enttäuscht. Ein solches Dokument kann es nicht geben, weil ich es nicht war.

Nach der eben erwähnten DDR-Fernsehdiskussion galten Sie in der westlichen Presse als Hoffnungsträger für die DDR. Nur zwei Monate später waren Sie der zwielichtige "Drahtzieher", wie der Spiegel im Januar 1990 titelte. Wie erklären Sie sich diesen tiefen Fall?

Ich wurde nicht mehr benötigt. Zuerst wurde noch jeder hochgejubelt, der für Reformen in der DDR stand. Als dann aber klar wurde, dass es die DDR bald nicht mehr geben würde, weil Gorbatschow sie aufgab, brauchten die im Westen auch niemanden mehr, der wie ich diesen Staat behalten wollte.

Das klingt nach Verschwörungstheorie. Wen meinen Sie mit "die"?

Die medialen Meinungsmacher von Spiegel, stern & Co., die nach der Wende das Geschehen in Ostdeutschland bestimmen wollten. Ich habe dann eine Reihe von medialen Wellen erlebt: Zuerst war ich der reine Satan. Dann ging ich in die Talkshows, und es hieß, ich sei ein Wolf im Schafspelz. Als die Menschen das irgendwann auch nicht mehr glauben wollten, kam die freundlichste Variante: "Der Gysi ist vielleicht ganz nett, aber die Leute hinter ihm sind alle furchtbar." So etwas kann man natürlich nicht widerlegen.

Die Westmedien - ein monolithischer Block?

Die Vorstellung, es gäbe in der Bundesrepublik keine Staatsdoktrin, ist naiv. Der Antikommunismus ist nicht nur staatliche, sondern auch gesellschaftliche Doktrin. Die Gegnerschaft zu meiner Partei war festgeschrieben, seitdem feststand, dass die DDR nicht mehr existieren würde. Im Laufe der Zeit hat sich die Meinung auch meiner Person gegenüber geändert. Als ich im Oktober 2000 den Fraktionsvorsitz aufgab, erschienen Zeitungskommentare, zu denen selbst der damalige Kanzler Schröder bemerkte, so eine Rehabilitierung habe er selten gelesen. Als ich dann in Berlin kandidierte, herrschte wieder die gegenteilige Meinung.

Nach Ihrem vorübergehenden Ausscheiden aus dem Bundestag im Jahr 2002 haben Sie die Seiten gewechselt und Anfang 2003 zusammen mit Lothar Späth eine eigene Talkshow im MDR moderiert. Wieso sind Sie nach nur drei Sendungen abgesetzt worden?

Aus politischen Gründen. Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt hatten alle CDU-Regierungen. Die haben dem Intendanten des MDR mitgeteilt, dass die nächste Gebührenerhöhung scheitern würde, wenn er mich nicht absetzte. Insbesondere Bernhard Vogel, der damalige Ministerpräsident von Thüringen, war strikt gegen mich. Die Unabhängigkeit der Medien, ich wiederhole das, ist auch eine Illusion. Oskar Lafontaine hat aber eine Errungenschaft schön auf den Punkt gebracht, als er sagte: "Ihr hattet ein Politbüro, wir haben viele Politbüros." Immerhin, man kann wechseln.

Eine alte Schulfreundin berichtet, dass Sie der Erste waren, der in Ihrer Klasse das Neue Deutschland gelesen hat, und zwar "zwischen den Zeilen." Hat das Ihre Medienkompetenz besonders geschult?

Vergessen Sie nicht: Weil ich in Ost-Berlin aufgewachsen bin, konnte ich immer schon ARD und ZDF sehen - und Die Schlager der Woche auf RIAS hören.

Damit hatten Sie den direkten Vergleich zwischen beiden Mediensystemen. Was waren für Sie die Unterschiede?

In der DDR wusstest du, dass alles, was wichtig war, von oben vorgeschrieben und abgestimmt war. Deshalb konnte man ja auch zwischen den Zeilen so viel lesen. Wenn etwa ein Mitglied des Politbüros einen runden Geburtstag hatte, und das stand nicht auf Seite eins, wusstest du: Dieser Mann ist erledigt. Oder Herbert Wehners Geburtstag. Das Neue Deutschland titelte auf Seite eins: "Willy Brandt würdigt Herbert Wehner". Auf Seite eins! Darunter standen vier Äußerungen von Brandt, mit denen er das Lebenswerk von Wehner ehrte. Sonst nichts. Kein einziger Satz vom Neuen Deutschland selbst, kein offizieller Kommentar der DDR also. Das bedeutete eine ziemliche Lobpreisung. Solche Dinge waren noch recht einfach zu decodieren. Es gab aber auch Komplizierteres, oft in den Kommentaren. Faszinierend war, wie die DDR-Bürger das alles durchschaut haben. Wenn Erich Honecker bei einem Parteitag eine vierstündige Rede hielt - was kaum zu ertragen war - wussten die Leute nach zwei Minuten, was für sie die einzig interessante Botschaft war. Die Westmedien waren hingegen viel offener und freier, aber doch sehr einseitig antikommunistisch. Mich hat immer geärgert, dass die BRD medial so deutlich überlegen war. Die hatten souveräne Leute, die sprechen konnten. Wenn ein Politiker in der DDR einen Satz in der Aktuellen Kamera sprechen sollte, dann las er ihn ab, auch wenn er ihn auswendig konnte. Weil er nicht wollte, dass seine Vorgesetzten sich darüber ärgern, dass er eloquenter war als sie. Mir wurde damals klar: So werde ich nicht und so will ich auch nicht werden.

So wurden Sie auch nicht. Was ist Ihr Kniff?

Ich unterhalte mich einfach mit den Leuten. Ich halte keine Reden, höchstens im Bundestag. Jemand hat einmal eine Magisterarbeit über meine Rhetorik geschrieben und untersucht, warum die Menschen bei meinen Kundgebungen bleiben und nicht weggehen. Der kam zu dem Schluss: Ich führe die Rede in Form einer Unterhaltung mit Fragen und Antworten und achte auf die Reaktionen der Leute. Ich habe mir das nie bewusst gemacht, aber es ist wirklich so. Das wirkt: Man verlässt kein Gespräch.

Wie kam es, dass Sie die Regeln des westlichen Mediensystems intuitiv beherrschten?

Ich hatte keine Minderwertigkeitskomplexe gegenüber den Journalisten der BRD, denn ich war als Anwalt geschult. Da hatte ich ja immer schlechtere Karten als der Staatsanwalt und musste deshalb doppelt so gut sein. Außerdem wuchs ich privilegiert auf. Mein Vater Klaus Gysi, der eine Zeit lang Kulturminister in der DDR war, war rhetorisch ganz anders gestrickt als die anderen Politiker. Von ihm habe ich viel gelernt. Überdies bekamen wir Besuch von Freunden meiner Eltern aus Frankreich, Großbritannien, den USA oder Südafrika. Die kannten meine Eltern aus der Zeit ihrer Emigration während der Naziherrschaft. Solche Besuche waren eine absolute Rarität in der DDR und die Gespräche haben mir neue Horizonte eröffnet, obwohl ich bis zu meinem vierzigsten Lebensjahr ebenso eingesperrt war wie alle anderen DDR-Bürger auch. Nicht zuletzt spielt meine Körpergröße eine Rolle. Wer klein ist, weiß schon als Kind: Entweder man setzt sich verbal durch, oder man hat keine Chance.

Interview: Carolin Wiedemann und Florian Diekmann

stern.de, 11. Januar 2007