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»Ich war Anwalt, frech und ging an die Grenzen«

Im Wortlaut von Gregor Gysi,

Linke-Fraktionschef Gysi soll zu DDR-Zeiten als Inoffizieller Mitarbeiter für die Stasi spioniert haben. Er weist die Anschuldigungen zurück.

Herr Gysi, konnte man als Anwalt in der DDR moralisch sauber bleiben?

Man war der Gesellschaft zugehörig, man konnte nicht das Regime wechseln. Ich musste immer versuchen, zu begründen, weshalb es im Interesse der DDR liegt, dass sie meinen Mandanten weniger antut. Eine bestimmte Grenze durfte man nicht überschreiten.

Aber man musste auch den Mut haben, innerhalb des Rahmens bis an die Grenze zu gehen und argumentativ frech zu werden. Außerdem: Ich war ja nicht gegen die DDR, sondern für eine veränderte DDR, ich hatte Kontakte zum ZK. Auch deshalb haben Leute wie Robert Havemann und Rudolf Bahro mich mit ihrer Verteidigung betraut.

SZ: Was war heikler, der Umgang mit Mandanten oder mit staatlichen Stellen?

Heikel war der Umgang mit Dritten - mit den Westjournalisten. Da hat ein Kollege einmal in einer Berufung geschrieben, dass er etwas völlig falsch findet. Das stand dann in einer Westzeitung. Der Rechtsanwalt bekam Schwierigkeiten.

Haben Sie sich abgesichert, indem Sie mit der Generalstaatsanwaltschaft und anderen Stellen gesprochen haben?

Nein. Da hätte keiner freiwillig meine Verantwortung übernommen. Wenn ich dem Raoul Gefroy von der Abteilung Staat und Recht im ZK eine Berufungsschrift von mir vorgelegt hätte, wäre die Antwort bloß gewesen: Das ist deine Berufung und nicht meine. Hätte Gefroy die vorher gelesen und abgesegnet, wäre er ja mitverantwortlich gewesen.

Wie tritt man denn auf im Gespräch mit den Leuten von der Abteilung Staat und Recht des ZK?

Man redet natürlich von Genosse zu Genosse. Da sagt man zum Beispiel: "Ich weiß nicht, wie du das siehst - ich habe mir das im Westfernsehen angeschaut: So gut kamen wir nicht dabei weg. Gut, jetzt habt ihr dem Robert Havemann alle Bücher weggenommen und dazu noch 10.000 Mark - das ist ja ein doller Erfolg."

Ich habe über das Ansehen der DDR geredet, habe also gesagt: "Wir wollen doch international gute Beziehungen haben - und gleichzeitig baut ihr immer solche Geschichten, die uns im Ausland schaden." Wichtig war, dass die Leute von der Abteilung das aufschrieben und weiterleiteten zu den höheren Stellen. Ich war zwar privilegiert - mein Vater war immerhin Kulturminister gewesen - aber ans Politbüro kam ich nicht ran.

Sie sagen, Sie hätten es nicht nötig gehabt, mit der Stasi zu reden, weil Sie sich in wichtigen Fällen ans ZK wenden konnten. Wie erklärt es sich dann, dass die Stasi an Informationen gekommen ist, die von Ihnen stammen? Aus einigen Unterlagen geht hervor: Major Lohr von der MfS-Hauptabteilung XX habe Sie in Ihrer Wohnung besucht. Lohr hat ausgesagt, sich Ihnen als ein Vertreter der Generalstaatsanwaltschaft namens Lohse vorgestellt zu haben. Trotzdem: Was hatte er in Ihrer Wohnung zu suchen?

Der war nie bei mir zu Haus.

So steht es aber in den Unterlagen.

Es steht darin, dass in meiner Wohnung ein Gespräch mit mir geführt wurde, es steht nicht da, von wem. Die Notizen, die Lohr da archiviert hat: Das sind nicht die Gespräche, die er mit mir als Vertreter der Staatsanwaltschaft geführt hat. In Wirklichkeit sind das meine Gespräche mit der Abteilung Staat und Recht.

Lohr kam 1980 zu mir, nannte sich Lohse, und sagte, er habe den Auftrag von der Generalstaatsanwaltschaft, nun, nach Abschluss des Verfahrens gegen Bahro, mit mir darüber zu sprechen, ob das Verfahren der DDR eher genutzt habe oder geschadet habe. Da dachte ich: mein Gott, jetzt beginnt da Vernunft, und habe mit ihm über das Verfahren gesprochen. Lohr hat mich zwei oder drei Mal in meinem Büro besucht, dann ist er nie wiedergekommen.

Und warum schreibt Lohr etwas Falsches auf?

Er war ehrgeizig, was mich betraf. Er hielt mich für abschöpfbar. Daher ja auch die Vorlaufakte für den IM "Gregor", eine Akte, die zur Prüfung möglicher Zuträger der Staatssicherheit angelegt wurde. Diese Akte hatte für Lohr übrigens auch den Zweck, dass seine Abteilung für mich zuständig blieb. Solange ich bei ihm als IM-Vorlauf erfasst war, durfte keine andere Abteilung zu mir Kontakt aufnehmen.

Ich habe mich immer gefragt, warum meine Vorlaufakte, 1980 eingerichtet, erst 1986 geschlossen wurde: Das war der Grund. Lohr wollte die Hoffnung nicht aufgeben, etwas aus mir zu machen - sei es als Mitarbeiter, sei es als Bespitzelter. Deshalb haben die meine Vorlauf-Akte erst archiviert, als Lohr bei seinem Chef durchgekriegt hatte, eine "Operative Personenkontrolle" gegen mich anzulegen.

Dass Lohr sich für Sie interessierte, glauben wir. Aber woher stammen dann die Unterlagen, die die Stasi über Sie und Ihre Mandanten unter den Namen "IM Gregor" und "IM Notar" gesammelt hat?

Vielleicht aus meinem Büro, vielleicht aus dem ZK, zu dem ich ja Kontakte hatte. Sie dürfen nie vergessen: Das ZK der SED war ein Heiligtum. Die Leute vom ZK haben entschieden, wen sie informieren. Wenn sie beschlossen, die Staatssicherheit zu informieren, dann durfte diese in den Akten nicht angeben, woher sie ihre Kenntnisse bezog.

Also hat man bei der Stasi eine Legende entworfen?

In der IM-Vorlaufakte "Gregor", also in meiner Akte, gibt es einen Vermerk, der von Gefroy von der Abteilung Staat und Recht des ZK unterschrieben ist. Wie kommt der zur Staatssicherheit? Der Vermerk hat keinen Kopfbogen. Das Duplikat eines Schreibens von mir ans ZK ist auch zur Stasi gelangt. Warum?

Entweder hatte die MfS-Hauptabteilung XX einen direkten Kontakt zur Abteilung Staat und Recht des ZK, oder die Leute von Staat und Recht haben mich betreffende Papiere auch an die Abteilung "Sicherheit" im ZK geschickt, und die haben es dann der Staatssicherheit weitergegeben.

Herr Lohr hat ausgesagt, einen "IM Notar" habe es nie gegeben. Unter diesem Namen habe er lediglich Informationen gesammelt, die Sie und Ihre Mandanten betrafen. Es gibt aber zwei Aktenvermerke: Mit "Notar" und anderen IMs sei die Überwachung Havemanns terminlich abgesprochen. Da muss man doch denken, "Notar" sei eine echte Person.

Lohr hat ausgesagt, er habe unter "IM Notar" lauter Nachrichten gesammelt, deren Herkunft er gegenüber anderen Abteilungen der Staatssicherheit verschleiern wollte. Ich sehe ja, dass die Dokumente widersprüchlich sind, ich begreife, dass man einen Verdacht gegen mich hegen kann. Aber alle Dokumente, die wirklich entscheidend sind, sprechen für mich.

Zum Beispiel?

Es gibt von mir keine Unterschrift. Und...

Moment! Herr Lohr schreibt im IM-Vorlauf "Gregor", er wolle die Vereinbarung mit Ihnen per Handschlag besiegeln.

Aber darüber hätte es unbedingt einen Vermerk geben müssen. Den hätte Lohr übrigens schon deshalb gemacht, weil er stolz gewesen wäre, mich angeworben zu haben. Es gab nie einen IM-Vorgang zu mir. Dass Lohr unter irgendwelchen Namen Informationen gesammelt hat, deren Quellen er nicht aufdecken wollte, erscheint mir übrigens plausibel. Es gibt ja in den Akten einige Informationen, die einem "IM Gregor" zugeschrieben werden.

Dies aber nur so lange, wie es den IM-Vorlauf "Gregor" zu mir noch nicht gab. Von da an gibt es nur noch den "IM Notar". Was heißt das für mich? Hätte Lohr "Gregor" geschrieben, als ich der Vorlauf "Gregor" war, hätte er damit mich als Quelle angegeben. Eine falsche Quellenangabe durfte er nicht machen, aber eine unbestimmte. Solange es den Vorlauf "IM Gregor" noch nicht gab, durfte er "Gregor" allerlei zuschanzen. Danach ging das nicht mehr.

Günter Lohr, sein Vorgesetzter Wolfgang Reuter von der Stasi und Raoul Gefroy von der Abteilung Staat und Recht im ZK haben, teils mit eidesstattlicher Erklärung, zu Protokoll gegeben, dass Sie ihnen nichts Verwertbares über Ihre Mandanten gesagt hätten.

Mit Reuter habe ich nie gesprochen. Im Übrigen haben die drei ja auch recht. Aber Sie gehören doch zu den Ersten, die sagen, dass die nur Leute wie mich decken wollen.

Stimmt.

Nehmen wir die Akten. Ich habe immer nur mit der Abteilung Staat und Recht vom ZK geredet. Das ZK war an den wichtigen Dissidenten interessiert, zuallererst an Robert Havemann und Rudolf Bahro. Mit meinen anderen Mandanten gaben die sich nicht ab. Die waren für die nicht wichtig genug.

Der Künstler Thomas Klingenstein, damals hieß er mit Nachnamen Erwin, hat jetzt erklärt, ich sei der Mann gewesen, der ihn nach einem Besuch bei Havemann mit in die Stadt genommen habe. Bei der Stasi gibt es ein Papier auf dem steht, "der IM" habe Erwin damals mitgenommen. Also müsste ich "der IM" gewesen sein.

Ich frage Sie aber eins: Die Stasi war an Thomas Erwin interessiert, sie hat ihn und zwei andere im Herbst 1980 eingesperrt. Alle drei habe ich verteidigt. Wenn ich wirklich der Mann der Staatssicherheit gewesen wäre, ich wäre gar nicht darum herumgekommen, über die zu reden, über sie und über andere "politische" Mandanten. Dann müssten Sie dazu in der BStU (Stasi-Unterlagenbehörde) etwas finden. Da finden Sie aber nichts.

Die Unterlagen können verschollen sein.

Bei allen dreien? Interessant ist: Papiere, die für mich sprechen, werden für falsch gehalten. Frau Birthler präsentiert nur Papiere, die sie gegen mich auslegen kann. Außerdem: Es ist bekannt, auch die BStU weiß das, dass es ein wichtiges Gebot bei der Stasi gab: Wird in einem Dokument ein IM erwähnt, so darf sein Klarname in diesem Dokument nicht vorkommen. In dem Papier, von dem wir reden, komme ich als Anwalt Gysi vor. Wäre ich der genannte IM gewesen, hätten die mich in diesem Bericht nicht mit Klarnamen erwähnen dürfen.

Die BStU sagt, es sei nicht ausgemachte Sache, dass Havemann abgehört wurde.

Frau Birthler sagt das, andere in der Behörde sehen das nachweislich anders. Und ich sage immer: Havemann war der vermeintliche Staatsfeind Nr. 1. Wenn die Staatssicherheit nur ein Abhörgerät gehabt hätte, sie hätte es bei ihm installiert. Dies im Sinn, haben Havemann und ich auch unsere Gespräche geführt.

Ich sagte ihm: "Aber Sie dürfen den Text meiner Berufung nicht in den Westen geben." Und er sagte dann später: "Ich habe wirklich nicht die blasseste Ahnung, wie der Westen davon Kenntnis erhalten hat." Augenzwinkernd. Sehen Sie: So lief das. Wenn wir etwas zu bereden hatten, was niemand hören sollte, sind wir in den Garten gegangen.

Nochmal zurück zu den Gesprächen, die angeblich in Ihrer Wohnung stattfanden: Das sind Tonbandprotokolle, die in der Ich-Form gehalten sind. Sie berichten von Besuchen bei Mandanten. Dass man auf eigene Tonbänder spricht, ist normal; dass man auf fremde Tonbänder spricht, nicht.

Da handelt es sich um Vermerke, die ich mir im Büro gemacht habe. Das meiste habe ich damals auf Tonband gesprochen. Komischerweise sind die Vermerke nicht vollständig, es sind nur Auszüge beim MfS gelandet. Da gibt es für mich nur eine Erklärung: Die Stasi hat sich in den Besitz von Abschriften der Bänder oder der Bänder selbst gebracht.

Ich halte es für ausgeschlossen, dass meine Gespräche mit der Abteilung Staat und Recht vom ZK mitgeschnitten wurden. Aber in meinem Büro gab es natürlich viele Tonbänder. Ich denke, dass die Staatssicherheit doch jemanden hatte bei mir im Büro. Ich könnte jetzt natürlich einen Verdacht aussprechen, das werde ich aber nicht tun, weil ich es nicht beweisen kann.

Indem man Ihnen vorwirft, IM gewesen zu sein, wirft man Ihnen auch Mandantenverrat vor.

Ja. Und das ist absurd. 1995 hat Bahro einen Leserbrief geschrieben, der natürlich nicht abgedruckt wurde...

Den Brief an den Spiegel kennen wir. Bahro schreibt, er habe Sie engagiert, weil er wusste, dass Sie zum ZK Kontakte hatten. Er schreibt, dass Sie auf Freispruch plädiert hatten, und er sich auch sonst von Ihnen gut vertreten fand.

Das war er ja auch. Bahro wurde zu acht Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Es gab eine gesetzliche Regelung, derzufolge man bei einer Freiheitsstrafe von mehr als sechs Jahren die Hälfte verbüßt haben musste, bevor man auf Bewährung entlassen werden konnte. Das heißt: Bahro hätte vier Jahre sitzen müssen.

Also habe ich der Abteilung für Staat und Recht anlässlich des dreißigsten Jahrestages der Gründung der DDR eine Jubelamnestie vorgeschlagen. Sie war juristisch unlogisch, eine gezirkelte Geschichte. Aber etwas mehr als ein Jahr nach der Verurteilung war Bahro frei und im Westen. In Havemanns Fall habe ich das ZK mühsam davon überzeugt, dass ein weiteres Strafverfahren zum Nachteil der DDR sein würde.

Sie haben Ihren Mandanten zu seinem Vorteil an das ZK der SED verraten.

Wenn Sie das so formulieren, haben Sie nicht verstanden, wie ein Anwalt in der DDR arbeiten musste. Ich sag’s nochmal: Havemann und Bahro haben mich als Mittler zum ZK benutzt. Sie wussten, dass dort über sie entschieden würde. Zu Havemann: Es gab nie wieder ein Strafverfahren, es gab nie wieder eine Hausdurchsuchung, nie wieder eine Beschlagnahme, der Hausarrest wurde aufgehoben, Havemann durfte sich wieder frei in der DDR bewegen.

Das alles hängt mit meinem Wirken zusammen. Ist das nichts? Er hätte auch zu den Genossen von der Solidarność nach Polen reisen können, das wollte er aber nicht, weil er Angst hatte, ausgebürgert zu werden wie Wolf Biermann.

Sie sind mit sich im Reinen?

Was ich für meine Mandanten erreicht habe, das hätten andere Anwälte sich kaum getraut. Die meisten hatten ja auch keine Gelegenheit, mit der Abteilung Staat und Recht zu sprechen. Weil mir das möglich war, muss ich mich jetzt gegen den Vorwurf wehren, für den Staatssicherheitsdienst gearbeitet zu haben.

Interview: Franziska Augstein und Heribert Prantl

Süddeutsche Zeitung, 26. Juni 2008