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Gesundheit ist keine Ware

Im Wortlaut von Martina Bunge,

Beitrag zur Serie "Was ist systemrelevant?"

Von Martina Bunge, gesundheitspolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag

 

 

 

Gesundheit ist enorm wichtig. Sie ist maßgeblich für unser Wohlbefinden und unsere Leistungsfähigkeit und müsste eigentlich für jede Gesellschaft absolut systemrelevant sein. Gesundheit zu messen ist nicht ganz einfach, denn Gesundheit ist nicht, was übrig bleibt, wenn man nicht krank ist. So wird Gesundheit oft mit Fragebögen zum Wohlbefinden erfasst. Die Lebenserwartung ist auch ein möglicher und weit verbreiteter Gradmesser für Gesundheit.

Betrachtet man die Entwicklung der Lebenserwartung der Menschen in Deutschland, zeigt sich, dass der größte Fortschritt bei der Lebenserwartung zu einer Zeit erzielt wurde, in der es kaum medizinische Innovationen gab. Dieser Fortschritt ist allein auf die Verbesserung der Lebensbedingungen und größere Hygiene zurückzuführen. Mitte des 19. Jahrhunderts betrug die Lebenserwartung bei Männern 35,6 Jahre und bei Frauen 38,4 Jahre. Die Lebensbedingungen im vorindustriellen Europa waren durch Nahrungsmangel, ansteckende Krankheiten sowie unzureichende hygienische Verhältnisse geprägt. Eine englische Statistik für die Jahre 1848 bis 1854 belegt, dass Infektionskrankheiten für 60 Prozent der Todesfälle verantwortlich waren.

Mit der Veränderung der Lebensverhältnisse stieg die Lebenserwartung deutlich an und schon bevor das Penicillin entdeckt war, lag sie bei 60 Jahren. Alle Infektionskrankheiten gingen bereits deutlich zurück, bevor Impfungen zur Verfügung standen. So sank die Sterberate von Tuberkulose in England innerhalb der 100 Jahre, bevor ein Impfstoff oder eine Arznei zur Verfügung stand, auf ein Achtel. Später, von 1950 bis 2010, ist die Lebenserwartung bei den Frauen weiter von 68 auf 83 Jahre gestiegen und bei Männern von 63 auf 78 Jahre. Das sind mit 15 Jahren noch einmal erhebliche Steigerungen. Glaubt man der Pharmaindustrie, haben sie den größten Anteil an dieser Entwicklung, glaubt man der Ärzteschaft, tragen sie am meisten dazu bei. Der Sachverständigenrat für das Gesundheitswesen schätzte in seiner Expertise 2005 den Anteil der Medizin an der Steigerung der Lebenserwartung je nach Modellannahmen auf 10 bis 40 Prozent.

Menschen mit niedrigen Einkommen leben im Durchschnitt zehn Jahre weniger

Was ist für den überwiegenden Rest verantwortlich? Unsere Gesundheit wird stark durch unsere Lebens- und Arbeitsbedingungen und die unserer Eltern bestimmt. Beispielgebend ist dafür der Unterschied der Gesundheit und Lebenserwartung nach sozioökonomischen Kriterien. Kinder von sozial benachteiligten Eltern kommen bereits mit geringerem Gewicht zur Welt und sind bei der Einschulung weniger gesund. Menschen mit niedrigen Einkommen leben im Durchschnitt zehn Jahre weniger als Menschen mit hohem Einkommen.

Vereinfacht gesprochen waren die Verbesserung der Lebensbedingungen, Gesundheitsförderung und nichtmedizinische Prävention hauptverantwortlich für den größten Sprung in der Erhöhung der Lebenserwartung. Aber spätestens seit dem Zweiten Weltkrieg spielt Gesundheitsförderung kaum noch eine Rolle. Die Ausgaben zur nichtmedizinischen Verbesserung der Gesundheit machen gerade einmal etwas über ein Promille der Gesundheitsausgaben für medizinische Interventionen aus. Der Anteil der Forschung zu Gesundheitsförderung hat einen ähnlichen Anteil an der gesamten medizinischen Forschung. Dabei ist offensichtlich, dass gerade die Gesundheitsförderung in der Lage ist, die größten Reserven bezüglich Gesundheit und Lebenserwartung zu bergen. Betrachten wir allein die unterschiedliche Lebenserwartung von armen und reichen Menschen. Würden alle Menschen die durchschnittliche Lebenserwartung der Gutverdienenden erreichen, stiege die Lebenserwartung um deutlich mehr als fünf Jahre.

Gesundheit erhöht das Bruttosozialprodukt viel weniger als Krankheit

Gerade diese Bundesregierung weigert sich, ein Präventionsgesetz vorzulegen, das dazu beitragen könnte, wirksame Maßnahmen zur Gesundheitsförderung zu entwickeln, zu koordinieren und in die Fläche zu bringen. Der Grund ist klar: Gesundheitsförderung erschafft keinen Profit. Sie kann zwar durch die Verbesserung der Gesundheit von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern mittelbar die Leistungsfähigkeit unserer Wirtschaft stärken, aber sie würde gleichzeitig dem "Reparaturbetrieb", bestehend aus Pharmaindustrie, Krankenhäusern und Arztpraxen, Mindereinnahmen verschaffen. Gesundheit erhöht das Bruttosozialprodukt viel weniger als Krankheit. Die Krankheitswirtschaft gewinnt immer mehr an Bedeutung. Vielleicht geraten wir in Zukunft noch in die Debatte, dass wir uns die Gesundheit der Menschen nicht leisten können, weil dadurch Arbeitsplätze vernichtet werden. In einer Welt, die von Profitstreben bestimmt wird, und bei Ländern, die als Maß des Wohlstands und Fortschritts auf das Bruttosozialprodukt zurückgreifen, ist der beste Mensch derjenige, der lange, aber krank lebt. Mit der Zunahme der chronischen Krankheiten kommen wir diesem Ziel immer näher. Gesundheit stört da nur.

Um aus diesem Weg auszusteigen, müssen wir andere Werte als Profite und Umsätze zu den maßgeblichen unserer Gesellschaft machen. Wohlbefinden beziehungsweise Gesundheit, kulturelle Entwicklung, soziale Gerechtigkeit, Toleranz und Frieden müssten in ein solches Maß einfließen. Und ein ganz wesentlicher Schritt im Bereich der Gesundheitspolitik muss dahin führen, das Gesundheitssystem aus dem Kommerz herauszuziehen und Gesundheitsförderung und nichtmedizinische Prävention zu einer zentralen Säule des Gesundheitssystems zu machen.

Daraus resultieren die Forderungen der Linksfraktion, nach der Beschränkung von IGeL1, nach der Rekommunalisierung der Krankenhäuser, nach der Abschaffung der PKV und Einführung einer solidarischen Bürgerinnen- und Bürgerversicherung  ebenso wie die Forderung nach einem Präventionsgesetz, das seinen Namen verdient. DIE LINKE wehrt sich gegen den Kommerz im Gesundheitssystem – Gesundheit ist keine Ware.

1 Individuelle Gesundheitsleistungen (IGeL)  sind Leistungen, die Ärzte ihren gesetzlich krankenversicherten Patienten gegen Selbstzahlung anbieten können.


linksfraktion.de, 22. November 2012

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