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Jan Korte spricht während einer Fraktionssitzung © Olaf KrostizFoto: Olaf Krostiz

Gemeinwohl ist wichtiger als Profit

Im Wortlaut von Jan Korte, Frankfurter Rundschau,

Die Debatte über die Enteignung von Wohnungen hat gute Gründe. Aber wir müssen auch andere Bereiche dem Markt entziehen. Der Gastbeitrag

 

Von Jan Korte

 

In einem der wohlhabendsten Länder der Erde könnte auch unsere Gesellschaft unglaublich reich sein. Wir könnten tolle Schulen haben, funktionierende Nachbarschaften, eine gute kommunale Infrastruktur für alle. Stattdessen gibt es eine verbreitete Abstiegsangst in der Bevölkerung, es gibt Zwietracht und Frustration.

Bürgerämter sind unterbesetzt, Bahnhöfe werden aus Kostengründen zugemacht und Buslinien gestrichen. Viele Angehörige sind Zeugen einer katastrophalen Situation bei der Pflege und haben Angst vor dem eigenen Lebensabend im Heim oder davor, selber einmal in einer Klinik in einem Bett auf dem Flur auf Hilfe zu warten. Mieterinnen und Mieter werden mit horrenden Mietensteigerungen aus ihrem Viertel verdrängt. Andere müssen ihre Familienplanung vorzeitig beenden, weil sie selbst als Gutverdienende keine erschwingliche größere Wohnung finden.

Einige wehren sich jetzt und fordern die Enteignung von Wohnungsunternehmen. Diese Forderung ist legitim und wird von großen Teilen der Bevölkerung unterstützt. Sie ist auch Ausdruck der Unzufriedenheit von Menschen, die genug vom Dogma des schlanken Staates haben. Und die sich von einem Markt bedroht fühlen, der es zwar nicht schafft, die Menschenwürde in Pflegeheimen und Krankenhäusern zu garantieren, Züge pünktlich fahren zu lassen oder ehemals kommunale Dienstleistungen besser und sozialer zu erledigen, dafür aber ordentlich Profit generiert.

So wie Bundesregierung und Steuerzahler den Markt in der Finanzkrise vor zehn Jahren vor sich selbst gerettet haben, wird auch heute der Staat gebraucht. Bloß ist es diesmal die Bevölkerung, die vor dem Markt gerettet werden muss.

In einem schleichenden Prozess hat das Profitstreben das Gemeinwohl immer weiter abgehängt und staatliche Interventionen der schwarzen Null untergeordnet. Das Ergebnis ist eine Normverschiebung, die mit dem in der Verfassung festgelegten Charakter der Bundesrepublik als demokratischer und sozialer Bundesstaat immer mehr kollidiert.

Wenn also große Bevölkerungsteile vom Staat erwarten, dass er die Menschenwürde garantiert und dem Allgemeinwohl Vorrang vor dem Profitinteresse einräumt, dann tun sie das zu Recht. Der Staat ist nicht nur in der Lage, sondern auch in der Pflicht, hier einzugreifen.

Die passenden Instrumente für diese Eingriffe haben die Mütter und Väter des Grundgesetzes gleich mitgeliefert – und das war kein Unfall, wie es uns die FDP einreden will. Dass die Idee der Vergesellschaftung von konservativer und marktradikaler Seite so scharf angegriffen wird, zeigt, dass man dort eine reale Bedrohung für Kapitalinteressen sieht. Die Angriffe konzentrieren sich auf das Risikopotenzial von Enteignungen für die Vorherrschaft der Konzerne, statt das Entwicklungspotenzial für Demokratie und Gesellschaft zu erkennen.

Was als Aufgabenkritik in der öffentlichen Verwaltung praktiziert wurde und wird, sollten wir unter dem Maßstab des Gemeinwohls und der Menschenwürde auf gesellschaftlich relevante Infrastruktur und Dienstleistungen anwenden: Was können Private leisten, was sollte der Staat wieder übernehmen?

Deshalb fordern wir, in einem ersten Schritt, die seit 1990 erfolgten Privatisierungen nach diesen Kriterien zu evaluieren, mit einem Schwerpunkt in den ostdeutschen Bundesländern, wo die radikalsten Privatisierungen stattfanden. Als zweiter Schritt sollte eine große Kommission aus Parlamentariern und Regierungsmitgliedern aus Bund und Ländern, Kommunalpolitikern, unabhängigen Institutionen und Transparenzinitiativen eingesetzt werden. Sie soll bis Ende 2020 Vorschläge erarbeiten, welche Aufgaben dem Markt entzogen und in Zukunft staatlich organisiert werden sollen.

Der Zeitgeist hat sich radikal geändert. Was sich noch vor drei, vier Jahren kein Linker getraut hätte laut auszusprechen, ist heute selbstverständlicher Teil politischer Debatten. Die Diskussion um Vergesellschaftung ist ein unübersehbares Zeichen, dass die Ära des Neoliberalismus an ihr Ende gekommen ist.

Noch ist aber völlig offen, in welche Richtung sich die Gesellschaft in Deutschland und Europa entwickeln wird: Hin zur antidemokratischen Autokratie, mit Tendenzen zur Faschisierung, wie wir sie schon beobachten können? Oder schaffen wir es, den Weg in eine neue Ära der Solidarität und des Gemeinsamen zu ebnen?

Ich bin sehr für Letzteres und meine, dass wir die Debatte um Vergesellschaftung und eine Renaissance des Staates zwingend mit der Diskussion um die Finanzierung gesellschaftlicher Aufgaben verbinden müssen – und über den Beitrag, den die immer reicher werdenden obersten zehn Prozent der Bevölkerung, die Börsenspekulanten und die milliardenschweren Konzerne dazu leisten können.

Frankfurter Rundschau,