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Drei Besucher vor einer Tafel des Denkmals für die vom Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma in Europa © picture alliance/dpa/Michael KappelerFoto: picture alliance/dpa/Michael Kappeler

Gedenken an ermordete Sinti und Roma ist Verpflichtung für Gegenwart

Im Wortlaut von Ulla Jelpke,

Von Ulla Jelpke

 

Am 2. August wird in Europa der im Zweiten Weltkrieg ermordeten Sinti und Roma gedacht. Mehrere Hunderttausend Angehörige der Minderheit wurden von Deutschen und ihren Helfershelfern erschossen, vergast oder dem Hungertod preisgegeben. In Deutschland wurden sie in Konzentrationslager geschickt. In den besetzten Ländern Osteuropas waren die Roma genauso Opfer des mörderischen Rassenwahns wie die jüdische Bevölkerung. Die faschistischen Bündnispartner der Nazis in Kroatien und Rumänien ermordeten ebenfalls Zehntausende Roma.

Über Jahrzehnte hinweg weigerten sich die deutsche Politik, Öffentlichkeit und Justiz, den Genozid überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Der Rassismus gegen Sinti und Roma war ungebrochen und schuf ein Klima, in dem die meisten Überlebenden es nicht wagten, Entschädigungsanträge zu stellen. Taten sie es doch, wurden diese in der Bundesrepublik häufig von Beamten geprüft, die während des Dritten Reiches an Verfolgungsmaßnahmen beteiligt waren.

Während in der BRD jeder kriegsbeschädigte SS-Angehörige eine lebenslange Rente erhielt, mussten die Opfer erschüttert feststellen, dass ihnen niemand zur Seite stand.

Dass wir heute den 2. August als Gedenktag begehen – an diesem Tag wurden in Auschwitz die letzten noch dort lebenden Sinti und Roma in die Gaskammern geschickt – ist in erster Linie dem Umstand zu verdanken, dass Sinti und Roma sich nicht mit einer Opferrolle begnügt haben. So wie viele von ihnen bereits während des Zeiten Weltkrieges gekämpft hatten – in den Reihen von Partisanen oder alliierten Armeen, im Untergrund, selbst im „Familienlager“ Auschwitz-Birkenau gab es Widerstand – nahmen sie auch den Kampf um ihre Erinnerung auf. Die spektakuläre Besetzung der KZ-Gedenkstätte Dachau durch Sinti und Roma im Jahr 1980 läutete einen langsamen Wandel in der Erinnerungskultur ein. Auch in Osteuropa sind es Aktive der Roma-Minderheit, die sich für die Aufnahme des Genozids in Schulbüchern, für den Bau von Denkmälern und ein würdiges Gedenken einsetzen.

Der symbolische Höhepunkt des Gedenkens ist in Deutschland das Denkmal für die ermordeten Sinti und Roma Europas, das 2012 im Berliner Tiergarten eingeweiht wurde. Und ausgerechnet dieses Denkmal ist in Gefahr, durch ein Tunnelprojekt der Deutschen Bahn, das nach deren ursprünglichen Plänen direkt unter dem Denkmal verlaufen und dessen zeitweilige Sperrung erfordern sollte. Bahn, Berliner Senat und der Zentralrat der Sinti und Roma sind nun im Gespräch darüber, aber schon die Ignoranz, mit der die Bahn, die kräftig an den Deportationen der Nazizeit verdient hatte, solch ein Projekt angegangen ist, zeigt, wie gefährdet das Gedenken ist.

Unsere Gedanken sollten am 2. August nicht nur bei den Toten, sondern auch bei den Lebenden sein. Praktisch alle Sinti und Roma in Europa sind Überlebende der deutsch-faschistischen Vernichtungspolitik oder deren Nachkommen. Wird Deutschland seiner Verantwortung ihnen gegenüber gerecht?

Zu dieser Verantwortung gehört die entschlossene Bekämpfung antiziganistischer Handlungsweisen und Einstellungen. Davon sind Deutschland und Europa noch weit entfernt. Die strukturelle Benachteiligung von Sinti und Roma zieht sich durch alle Bereiche der Gesellschaft. Umfragen zeigen regelmäßig einen erschreckend hohen Stand von Ablehnung der Minderheit durch die Mehrheitsgesellschaft. Gerade in der Corona-Krise sind Roma nicht nur die ersten Opfer wirtschaftlicher und bildungspolitischer Verheerungen, sondern auch einem Wiederaufflammen antiziganistischer Vorurteile und auch Gewalt ausgesetzt.

All das macht eine politische und gesellschaftliche Anstrengung notwendig, die zweierlei anstreben muss: Den Sinti und Roma Mittel in die Hand geben, für ihre Rechte zu kämpfen, und dem Antiziganismus der Mehrheitsgesellschaft den Kampf anzusagen. Denn es geht nicht um „Integrationsdefizite“ der Minderheit, sondern um den Rassismus der Mehrheit, die der Minderheit eine gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft verwehrt.