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Gaza: Hoffnung statt Hass

Periodika,

Soeben bin ich aus Gaza zurückgekehrt - einem der am dichtesten besiedelten Orte der Welt. Gegenwärtig gleicht er einem fest verschlossenen menschlichen Druckkessel. Dort sah ich, dass das Leiden der Menschen immer stärker wird. Dies zeigt nur allzu deutlich die ebenfalls stärker werdenden Widersprüche zwischen den Zielen und Hoffnungen des wiederbelebten Friedensprozesses im Nahen Osten und der rauen Wirklich-keit der sich stetig verschlechternden Lage in dem Gebiet. Wenn nicht umgehend Maßnahmen ergriffen werden, um sie aufzulösen, können sich diese Widersprüche als tödlich für den Friedensprozess erweisen und die Lage einer der ältesten und größten Flüchtlingspopulationen der Welt extrem verschlechtern.

Die 1,5 Millionen Einwohner von Gaza - von denen mehr als die Hälfte jünger als 18 Jahre alt sind - leiden unter starken Einschränkungen ihrer Bewegungsfreiheit. Seit der Regierungsübernahme der Hamas im Juni 2007 wurden sie durch Israel noch weiter verschärft. Im September 2007 erklärte die israelische Regierung Gaza zum »feindlichen Territorium« und schuf so die Grundlagen für das weitere Zuziehen der wirtschaftlichen Schlinge. In der Bevölkerung machen sich die Folgen der stetig schlechter werdenden Ver-sorgung immer stärker bemerkbar - und zwar insbesondere bei den Schwächsten: den Kindern, Alten und Kranken.

Gaza droht Kollaps

Ich möchte eines ganz klar sagen: Die Sorgen Israels hinsichtlich seiner Sicherheit sind völlig verständlich. Die Angriffe militanter Palästinenser, die ihre Raketen von Gaza aus auf Israel abfeuern und denen es gleichgültig ist, welche Ziele sie treffen, müssen sofort aufhören. Für solche kriminellen Handlungen, die ich eindeutig verurteile, gibt es keine Rechtfertigung. Ich habe selbst gesehen, welchen Schaden und welche physischen und psychischen Verletzungen die Bewohner von Sderot im Süden Israels aufgrund der seit Jahren andauernden Raketenangriffe erleiden.

Trotzdem braucht Gaza jetzt dringendst eine zuverlässigere Versorgung mit Nahrungsmitteln, die unterschiedlichsten Güter und Ersatzteile für den weiteren Betrieb seiner Strom- und Wasserversorgung und der Entsorgungsinfrastruktur. Es braucht in sehr viel breiterem Umfang die Einfuhr von Gütern zur Aufrechter-haltung seiner medizinischen und Bildungsinfrastruktur und für die Wiederbelebung seiner zusammengebrochenen Industrie und Landwirtschaft.

Fast 80 Prozent der Bevölkerung von Gaza sind jetzt auf Nahrungsmittellieferungen der UNO und anderer Hilfsorganisationen angewiesen. Seit Juni 2007 wurden 85 Prozent der Unternehmen des produzierenden Gewerbes in Gaza geschlossen. Hierdurch stieg die Arbeitslosenrate auf fast fünfzig Prozent. Strom- und Kraftstoffmangel führen dazu, dass die Wasser- und Energieversorgung immer schlechter werden. Die Wasserqualität verschlechtert sich rapide und ein großer Teil der Bevölkerung hat nur noch sporadisch Zugang zu sauberem Wasser. Gegenwärtig werden 60.000 Kubikmeter Abwasser ins Mittelmeer abgeleitet - mit unabsehbaren Folgen für die Umwelt. Es besteht große Gefahr, dass einige der Abwassersammelbecken von Gaza demnächst kollabieren.

Das knappste von allen knappen Gütern in Gaza ist aber die Hoffung - dieses Gut, dessen der Mensch am stärksten bedarf. Dafür zu sorgen, dass die Menschen von Gaza wieder hoffen dürfen, ist dringend erforder-lich, um dem zunehmenden Extremismus Einhalt zu gebieten. Es ist eine politische Aufgabe, eine, bei der verantwortungsvolle Führer - Israelis und Palästinenser gleichermaßen - die großen, für den Frieden
notwendigen Risiken eingehen müssen.

Die Verzweiflung und Erniedrigung, die man fühlt, wenn man in einem Gebiet lebt, das wie ein großes Freiluftgefängnis anmutet, kann man sich kaum vorstellen. Es ist eindeutig ein Pulverfass, das nur noch auf den Funken wartet. Aber niemand kann daran interessiert sein, dass Gaza explodiert - am wenigsten Israel und die an seiner Sicherheit Interessierten.

Für FriedenRisiken eingehen

Wie können wir also das Leiden verringern und dazu beitragen, die Spannung abzubauen? Zuallererst müssen Hilfsorganisationen sofortigen, uneingeschränkten und regelmäßigen Zugang für ihre Güter und Mitarbeiter erhalten statt des gegenwärtig widerwillig zugelassenen Minimums. Schon allein die UNO hat humanitäre und Entwicklungsprojekte im Werte von 213 Millionen Dollar, die aufgrund fehlender Rohstoffe - insbesondere Zement - nicht weiterentwickelt werden können. Wir haben von der israelischen Führung nachdrücklich gefordert, den Transport von Gütern in das Gebiet unbedingt zuzulassen, damit diese lebenswichtigen Projekte sofort weitergeführt werden können.

Zweitens: Humanitäre Hilfe ist zwar wesentlich für das Überleben, sie allein kann jedoch das Leiden in Gaza nicht mildern. Die Grenzübergänge von und nach Gaza müssen geöffnet werden. Ohne den freien Verkehr von Waren und Arbeitskräften von und nach Gaza wird es für den privaten Sektor nicht möglich sein, die Starthilfe zu geben, die für die Wiederbelebung der todgeweihten Wirtschaft nötig ist. Ein wichtiger erster Schritt in diese Richtung wäre die Öffnung des großen Wirtschafts-Grenzübergangs Karni. Das ist der einzige Grenzübergang zu Gaza, der über eine für die ordnungsgemäße und effektive Abfertigung großer Gütermengen erforderliche Infrastruktur verfügt. Die palästinensische Behörde hat konstruktive Vorschläge unterbreitet, wie dies geschehen könnte, ohne dass die Sicherheit Israels gefährdet wird. Wir bitten alle Beteiligten dringlich, diese Vorschläge ernsthaft zu prüfen und eine Lösung einschließlich eines akzeptablen Sicherheitsregimes zu vereinbaren.

Drittens sollte die Hamas sofort und bedingungslos dafür sorgen, dass das Abschießen von Kassam-Raketen aus Gaza eingestellt wird. Mit diesen Raketen werden unschuldige Zivilisten verletzt und getötet. Diese An-griffe führen zu wirtschaftlichen und militärischen Reaktionen, die das Leiden der Menschen in Gaza nur noch verschlimmern.

Viertens: Die wirtschaftliche Strangulation Gazas durch Israel entspricht nicht Israels Verpflichtungen gemäß dem humanitären Völkerrecht. Auch dies muss aufhören. Es darf nicht so sein, dass die Mehrheit der Bevölkerung von Gaza für die kriminellen Handlungen einer gewalttätigen und extremistischen Minderheit bestraft wird. Aus der gegenwärtig ausgebrachten
»Drachensaat« können nur noch mehr Gewalt und Leiden erwachsen.

Zuletzt sollten wir alle unser Augenmerk auf das eigentliche Ziel gerichtet halten: das friedliche Zusam-menleben zweier Staaten und die Schaffung einer durch mehr Sicherheit und Wohlstand geprägten Zukunft für ihre Völker. Aus heutiger Sicht mag dies zu ehrgeizig erscheinen, aber langfristig ist dies die einzig er-folgversprechende Möglichkeit. Der Frieden kann nicht auf dem Amboss der Wut geschmiedet oder geschaffen werden, indem die eine Seite der anderen ein menschenwürdiges Leben versagt. Der einzig mögliche Weg, all dieses Leiden zu beenden, ist die baldige Einigung auf eine gerechte und dauerhafte friedliche Lösung. Darauf sollten all unsere Anstrengungen gerichtet sein, damit an die Stelle des Hasses Hoffung treten kann.