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Für soziale Unruhe sorgt die Bundesregierung

Im Wortlaut von Oskar Lafontaine,

Interview in der Berliner Zeitung.

Herr Lafontaine, gibt es die Arbeiterbewegung noch?

Selbstverständlich, aber sie setzt sich heute ganz anders zusammen als vor 100 Jahren. Heute wird die Arbeiterbewegung im Wesentlichen von den Gewerkschaften und der Partei Die Linke repräsentiert. Die SPD hat leider die Prinzipien aufgegeben, für die die Arbeiterbewegung weltweit steht.

Sind Sie enttäuscht, dass sich dennoch die Gewerkschaften zuletzt wieder der SPD angenähert haben?

Die Gewerkschaftsfunktionäre, die auch ein SPD-Parteibuch haben, versuchen trotz des von der SPD betriebenen Sozialabbaus und der Rente mit 67 Jahren ihre Partei zu stärken. Im Mittelbau und bei den Mitgliedern der Gewerkschaften wird manches anders gesehen, als es diese Funktionäre darstellen. Hier vergisst man nicht, was die SPD angerichtet hat: Hartz IV, Agenda 2010, Kriegsbeteiligung in Afghanistan und höhere Mehrwertsteuer.

Welche Folgen hat es denn, wenn Gewerkschaftsführungen teilweise den traditionellen Schulterschluss mit der Sozialdemokratie suchen?

Wir stellen fest, dass im Gegenzug einfache Gewerkschaftsmitglieder zur Linken kommen, um die Partei zu stärken, die im Bundestag ihre Forderungen vertritt. Die Linke ist ja die einzige Fraktion, die hinter Gewerkschaftsanliegen steht. Beispiele sind: Abschaffung des Anti-Streikparagrafen, Ausbau der Mitbestimmung, höherer Hartz IV-Satz, Verlängerung des Arbeitslosengeldes, Mindestlohn, Vermögensteuer. Die SPD erzählt auf den Marktplätzen, sie sei dafür, im Bundestag stimmt sie mit Nein.

Auf die politische Spaltung der Arbeiterbewegung folgte in der deutschen Geschichte schon häufiger eine Einigung. Ist das für Sie ein Ziel?

Die politische Einheit der Arbeiterbewegung ist immer wünschenswert. Sie liegt aber in weiter Ferne, weil die gemeinsamen Ziele entscheidend sind - und daran fehlt es gegenwärtig zwischen der Linken und der SPD. Sozialabbau und Kriegsbeteiligung sind das Gegenteil von dem, was die Arbeiterbewegung will. Und die SPD ist fest entschlossen, mit Westerwelle oder Merkel jeden sozialen Fortschritt auch in den nächsten Jahren zu verhindern.

Viele Anhänger der Linken haben gar keine Arbeit. Wie wollen Sie die bestehenden Spannungen in Ihrer Partei zwischen einer Politik für die Beschäftigten und einer für die Empfänger von Sozialleistungen lösen?

Auch die Mehrheit der CDU/CSU-Wähler bezieht Transferleistungen, das ist nicht nur ein Problem der Linken. Gleichwohl wissen alle: Wohlstand entsteht aus Arbeit. Also muss jede linke Partei die arbeitenden Menschen besonders im Blick haben. Wir sehen auch keinen Gegensatz zwischen Rentnern, Hartz-IV-Empfängern, Arbeitslosen und Arbeitnehmern, denn die Sozialleistungen folgen dem Anstieg der Löhne. Deshalb sind wir als einzige Partei konsequent für Löhne eingetreten, die dem Produktivitätszuwachs entsprechen. Die Arbeitnehmer sind in den letzten Jahren durch sinkende Reallöhne vom wachsenden Wohlstand ausgeschlossen worden.

Gesine Schwan rechnet mit einer explosiven Stimmung im Land, der DGB gar mit sozialen Unruhen. Teilen Sie diese Sorgen?

Für soziale Unruhe sorgt die Bundesregierung. Sie verweigert auch bei einem Einbruch der Wirtschaftsleistung um sechs Prozent ein größeres Konjunkturprogramm. Deshalb fürchten viele Menschen um ihren Arbeitsplatz. Wie sich diese soziale Unruhe auswirken wird, vermag niemand zu sagen.

Was halten Sie von den dramatischen Warnungen?

Sie beschreiben schlicht das, was ist. Die soziale Unruhe in der Bevölkerung lässt sich nicht leugnen. Sie wird in dem Maß steigen, wie die Arbeitslosigkeit steigt.

Wie wird sich das entladen? Zwischen Unruhe und Unruhen besteht doch ein Unterschied.

Das hängt von der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung ab. Die letzten größeren Proteste wurden durch Hartz IV hervorgerufen. Die Kürzung des Arbeitslosengeldes und die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe haben nach wie vor Gesetzeskraft: Menschen, die jahrzehntelang in die Sozialkassen eingezahlt haben, werden nach einem Jahr genauso gestellt wie andere, die nie einer Erwerbsarbeit nachgegangen sind. Das ist und bleibt ein Skandal.

Sollte der Staat in der Krise Unternehmen wie Opel retten und sie übernehmen?

Der Staat hat die Aufgabe, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Es gibt eine Reihe von Fällen wie VW, in denen die Staatsbeteiligung die richtige Antwort ist. Im Fall Opel sind wir für Staats- und Belegschaftsbeteiligung. In der Zukunft muss gelten: Wenn der Staat Steuergeld in Unternehmen steckt, sollte das dauerhaft in Belegschaftsanteile umgewandelt werden. Die Krise ist auch Folge des Abbaus von Mitbestimmungsrechten. Sie sollte Anlass sein, den Beschäftigten mehr Einfluss auf ihre Betriebe zu geben.

Wie wirkt die Krise bei den Wahlen?

Wir hoffen, dass die Linke stärker wird. Nur so können die Wähler verhindern, dass Arbeitnehmer, Rentner und sozial Bedürftige die Zeche für die Krise zahlen.

Bisher profitiert Ihre Partei aber laut Umfragen nicht.

Warten wir ab. Wir liegen im Gegensatz zur SPD über unserem Ergebnis bei der letzten Bundestagswahl. Trotzdem sind wir nicht zufrieden. Wenn die Linke nicht deutlich stärker wird, wird der neoliberale Block nach der Bundestagswahl Löhne, Renten und soziale Leistungen kürzen.

Interview: Gerold Büchner

Berliner Zeitung, 30. April 2009