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Für eine »Agenda Sozial«

Interview der Woche von Klaus Ernst, Diana Golze,

Von Diana Golze, kinderpolitische Sprecherin der Fraktion, und Klaus Ernst, MdB. Beide sind Mitglieder des Spitzenteams für den Bundestagswahlkampf der Fraktion DIE LINKE.

 

 

"Wir müssen den Mut aufbringen, in unserem Land jetzt die Veränderungen vorzunehmen, die notwendig sind, um wieder an die Spitze der wirtschaftlichen und der sozialen Entwicklung in Europa zu kommen." Das waren die Worte, mit denen vor zehn Jahren Gerhard Schröder seine Agenda 2010 ankündigte. Hat das funktioniert?


Klaus Ernst: An die wirtschaftliche Spitze Europas hat uns diese Politik gebracht. Ja. Aber zu welchem Preis? Tatsache ist doch, dass die gesteigerte Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands auf Basis eines hemmungslosen Lohndumpings organisiert wurde. Fast ein Viertel der erwerbstätigen Bevölkerung muss heute von Niedriglöhnen leben. Gleichzeitig hat diese Dumpinglohnstrategie dazu geführt, dass wir gegenüber unseren europäischen Handelspartnern gigantische Leistungsbilanzüberschüsse aufgebaut haben. Das rächt sich jetzt. Denn die von der Krise betroffenen Länder sind überhaupt nicht mehr in der Lage, unsere Produkte zu erwerben. Merkel und Schäuble sägen mit ihrer bedingungslosen Sparpolitik den Ast ab, auf dem unsere Wirtschaft sitzt.

Immerhin ist doch die Zahl der Arbeitslosen beeindruckend gesunken.


Klaus Ernst: Mit der Agenda hatte das allerdings nichts zu tun. Erstens hat bereits seit dem Tiefstand 1994 kontinuierlich die Erwerbstätigkeit zugenommen und zweitens arbeiten zwar heute mehr Menschen als noch vor zehn oder zwanzig Jahren, die geleisteten Arbeitsstunden aller Beschäftigten ist aber kaum höher. Die Zunahme der Erwerbstätigkeit beruht also vor allem auf der Veränderung der Erwerbsstruktur: weniger Vollzeit, dafür mehr atypische Beschäftigung bzw. Niedriglohnbeschäftigung wie Leiharbeit, Teilzeitbeschäftigung oder befristete Jobs.

Wer hat davon profitiert, dass die Lohnnebenkosten gesunken sind? Gab es dadurch neue Jobs?


Klaus Ernst: Profitiert hat vor allem die Kapitalseite. Im wahrsten Sinne des Wortes! Während die preisbereinigten Profite der Unternehmer um weit mehr als 30 Prozent geradezu abgehoben sind, haben die Beschäftigten fast zwei Prozent weniger in der Tasche als noch vor zehn Jahren. Zugleich hat es sich als Trugschluss erwiesen, dass mit der Senkung der Sozial- und Steuerabgaben für Unternehmen auch mehr Jobs geschaffen werden. Tatsächlich sind die Profite in hochriskante Finanzprodukte geflossen. Die Unternehmen haben also mit ihren Gewinnen an den internationalen Finanzmärkten spekuliert – auch das ist ein Teil der Wahrheit, wenn man über die Krisenverursacher spricht.

Gibt es Menschen, die von der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe profitiert haben?


Diana Golze: Zunächst einmal gilt es zu betonen, was die „Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe“ bedeutet: Das ist Hartz IV. Mit der massiven Verkürzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes und der Abschaffung der Arbeitslosenhilfe wurde die Absicherung des sozialen Risikos Erwerbslosigkeit der Fürsorge übertragen. Das ist ein massiver Sozialabbau: Die Leistungen wurden auf Sozialhilfeniveau gekürzt. Viele Menschen bekommen aufgrund der Bedürftigkeitsprüfung gar keine Leistungen mehr. Mit diesen Maßnahmen sollen die Menschen in den Niedriglohn gezwungen werden. In dem Sinne profitieren natürlich diejenigen, die für zu wenig Lohn andere Menschen für sich arbeiten lassen.


Der Staat sollte, so sah es die Agenda 2010 vor, auch investieren - in Bildung zum Beispiel, in Ganztagsschulen und in die Frühförderung in Kitas. Wie sieht die Bilanz hier aus?


Diana Golze: Zunächst war es vor allem der große Pisa-Schock, der eine Debatte um Ganztagsschulen und den Ausbau von Kindertagesbetreuung vorangetrieben hat. Der fiel zeitlich auch in die Phase der Schröderschen Arbeitsmarktreformen, und prekärerweise wurde zumindest der Kitaausbau an genau diese Reformen – wenn auch nur mittelbar – geknüpft. Aus heutiger Sicht kann man sagen: Beide Initiativen haben gezeigt, dass es mehr braucht als ein kurzfristiges Engagement, das sowohl zeitlich als auch finanziell begrenzt ist. Beide Projekte haben etwas angestoßen, aber beide sind auch in ihren Wirkungen weit hinter den Erwartungen zurückblieben. Dass ausgerechnet die Frühförderung von Kindern über die Einsparungen durch die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe kofinanziert werden sollte, war ein neuer und folgenschwerer Ansatz. Dass so offenkundig gesamtgesellschaftliche Aufgaben auf dem Rücken derer ausgetragen wurden, die ohnehin schon nichts haben, sollten wir leider nicht das letzte Mal erleben.

Mitten in der Finanzkrise scheint Deutschland derzeit noch mit ein paar Schrammen davon gekommen zu sein. Anders als in Südeuropa ist hier die Arbeitslosigkeit nicht in die Höhe geschnellt, Wirtschaft und Börse sind stabil geblieben. Trügt der Schein, oder können die Menschen hier mit Recht sagen, dass es ihnen gut geht?


Klaus Ernst: Die Menschen haben ein ziemlich gutes Gespür dafür, die wirtschaftliche Situation in unserem Land einzuschätzen. Immer mehr Menschen glauben, dass die Krise bei uns schon längst angekommen ist. Das Wirtschaftswachstum bleibt deutlich hinter den Erwartungen des vergangenen Jahres zurück. Die Arbeitslosigkeit steigt und immer mehr Unternehmen melden wieder Kurzarbeit an. Währenddessen rennen Herr Rösler und Frau Merkel immer noch durch das Land und behaupten das glatte Gegenteil. Selbst Schlafwandler hätten schon längst gemerkt, wo die Reise hingeht.

Die Troika verlangt von Griechenland, aber auch anderen, die Hilfen aus dem Europäischen Stabilitätsmechanismus in Anspruch nehmen wollen, radikale Einschnitte in den Sozialstaat. Exportiert Deutschland die Agenda 2010?

Diana Golze: So hat es auch Angela Merkel verschiedentlich gesagt. Die Agenda 2010 sei das Vorbild, an dem sich die anderen EU-Länder orientieren sollen. Über die Auflagen für Kredite kann diese Politik den Ländern auch gegen ihren Willen aufgenötigt werden. Dabei wird ein entscheidender Punkt übersehen: Die Agenda 2010 hat mit ihrem Druck auf die Löhne dazu geführt, dass Deutschland eine Politik des Lohndumpings auf Kosten der europäischen Nachbarn betrieben hat. So hat es auch der EU-Sozialkommissar László Andor ausgeführt: Die politisch gewollte Lohnzurückhaltung in Deutschland hat die Krise in der EU mitverursacht.

Wohin führt das?


Diana Golze: Wenn alle Länder eine Politik der Lohnzurückhaltung und des Sozialabbaus betreiben, dann konkurrieren sich alle wechselseitig zu Boden. Die Menschen leiden. Die Nachfrage geht zurück. Die Unternehmen verkaufen nichts mehr, die Produktion kommt zum Erliegen, die Beschäftigten werden entlassen und es wird ein Teufelskreis in Gang gesetzt, der schwer zu durchbrechen ist. Deutschland würde im europäischen Interesse handeln, wenn es diesen sozial desaströsen Wettbewerb nach unten beenden würde. Der erste Schritt wäre eine deutliche Lohnerhöhung in Deutschland. Eine europaweit koordinierte Umverteilung von Reichtum und ein europäisches Konjunkturprogramm wären die notwendigen weiteren Schritte. 


Die BILD-Zeitung fragte im vergangenen Jahr Gerhard Schröder in einem Interview: "Brauchen wir jetzt eine Agenda 2020?" Seine Antwort lautete: "Ja, wobei der Name egal ist. Hauptsache, es passiert was. Ich hoffe, dass die heutige Politiker-Generation den Mut dazu hat." Wie sieht's aus bei Ihnen?


Diana Golze: Ja, es braucht eine anders ausgerichtete Agenda, eine Agenda Sozial. Reichtum im Überfluss ist nicht nur ungerecht, sondern ökonomisch schädlich. Reichtum im Überfluss befeuert die internationalen Finanzmärkte. Den Reichtum der Gesellschaft einer sozialen Nutzung zuzuführen, ist das Gebot der Stunde. Und das heißt Umverteilung der Gelder in die Bereiche, in denen dringender Handlungsbedarf besteht. Ich nenne als Beispiele nur Schulen, Kitas, Gesundheit, Pflege.

Klaus Ernst: Mir geht es vor allem um den Mut, die Verteilungsfrage zu stellen. Nur wenn es uns gelingt, dass auch diejenigen vom gesellschaftlichen Reichtum profitieren, die ihn täglich erwirtschaften, also die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in unserem Land, kann uns eine sozialstaatliche Erneuerung gelingen. Denn eine Gesellschaft, die sich zunehmend sozial aufspaltet und Millionen ins Abseits drückt, gefährdet die Substanz einer vielfältigen, lebendigen Demokratie. Soziale Gerechtigkeit und individuelle Freiheit sind zwei Seiten einer Medaille.
 

linksfraktion.de, 11. März 2013