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Petra Pau im Clara-Zetkin-Saal des Bundestages @ dpaFoto: dpa

»Für diese Menschen sind wir im Bundestag alle Verbrecher«

Im Wortlaut von Petra Pau, Die Welt,

Die Gewalt habe im Corona-Jahr Einzug in die politische Auseinandersetzung gefunden, warnt Linke-Politikerin Petra Pau. Mit der AfD habe die Entwicklung auch den Bundestag erreicht: „Sie legt den rhetorischen Brandsatz und hofft, dass ihn draußen jemand anzündet.“ Interview: Luisa Hofmeier

 

WELT: Frau Pau, vor zehn Jahren brach Ihre Stimme weg. Sie mussten das Sprechen neu lernen. Grund ist eine neurologische Erkrankung, bei der der Sprachmuskel krampft. Wie geht es Ihnen?

Petra Pau: Ich lebe mit der Erkrankung, mache jeden Tag Übungen und trainiere einmal in der Woche mit einer Logopädin, um reden zu können. Inzwischen habe ich keine Angst mehr, auf einmal zu verstummen. Manchmal kommt meine tiefe, schöne Alt-Stimme sogar wieder.
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WELT: Sie mussten während eines Aufenthalts in einer Stimmheilklinik wieder lernen zu sprechen.

Pau: Dort waren Lehrer, Callcenter-Mitarbeiter und ein Pfarrer – alle konnten nicht mehr sprechen, obwohl es für sie essentiell war. Ich habe damals begriffen, dass ich nicht alleine bin.

WELT: Sie haben mal gesagt, dass Sie Angst hatten, es könnte das Ende Ihrer Karriere im Bundestag sein. Warum war es das nicht?

Pau: Das lag vor allem an anderen. Die Bundestagsmitarbeiter hatten die Idee mit dem Headset, das ich benutze. Im Plenarsaal, aber auch in den Ausschusssälen gibt es inzwischen Technik mit Induktionsschleifen, sodass man verstärkt wird und zugleich hört, was auf der anderen Seite ankommt. Entscheidend war auch die parteiübergreifende Solidarität. Andere Abgeordnete haben sich Gedanken gemacht, wie sie mir meine Arbeit erleichtern könnten. Und niemand hat je infrage gestellt, ob ich mein Amt als Vizepräsidentin weiterführen kann. Das war eine wunderbare Erfahrung. Ich bin glücklich, dass ich sie gemacht habe, bevor die AfD ins Parlament kam. Heute wäre so etwas unvorstellbar.

WELT: Gibt es Situationen, in denen Ihre Erkrankung Sie behindert?

Pau: Eigentlich nicht. Manchmal gibt es Momente, in denen meine Stimme Probleme macht. Inzwischen weiß ich aber, was ich tun kann, um den Krampf aufzulösen – und zwar schnell, ohne dass es jemand bemerkt.

WELT: Eine laute, tiefe Stimme assoziieren wir häufig mit Durchsetzungsvermögen, Sicherheit und Stärke. Ist das aus Ihrer Sicht ein Grund, warum Frauen es schwerer in der Politik haben?

Pau: Zum Teil, ja. Es gibt viele Frauen, bei denen die Stimme nicht immer sitzt – oder die einfach eine hohe, eher piepsige Stimme haben. Entscheidender dürften aber die allgemeinen Umgangsformen miteinander sein. Außerdem gibt es aus meiner Sicht nur selten die Notwendigkeit zu brüllen. Stil ist viel wichtiger, insbesondere der Umgang mit der politischen Konkurrenz. Daran sollten wir uns in der Politik häufiger erinnern – auch gegenseitig. Wir können Menschen viel eher von uns überzeugen, wenn wir zugeben, dass wir der gleichen Meinung sind wie der politische Gegner.

WELT: Wenn das so ist, warum ist gegenseitige Zustimmung die Ausnahme?

Pau: Das liegt in den inneren Mechanismen von Parteien und Fraktionen. Meine Fraktion ist nicht immer eine Wohlfühl-Oase, das ist bekannt. Andere Parteien unterscheiden sich davon aber kaum. Gegeneinander und Konfrontation sind alltäglich. Politiker denken, dass sie schutzlos sind, wenn sie nicht die gleichen Mittel wählen.

WELT: Würden Sie das auch so analysieren, wenn Sie Ihre Stimme nie verloren hätten?

Pau: Sicherlich habe ich gelernt, bei meinen Konflikten wählerischer zu sein. Ich sage häufiger: Das ist mir jetzt egal, ich halte mich raus. Früher habe ich jede Auseinandersetzung zu meinem Thema gemacht. Heute komme ich öfter zu dem Schluss, dass es sich nicht lohnt. Ich bin auch seltener wütend. Und ich habe gelernt, Nein zu sagen. Dass meine Stimme überhaupt weggegangen ist, war ein Warnschuss, ein Ergebnis von 20 Jahren Dauerlauf – vom Berliner Landesvorsitz in den Bundestag, ins Präsidium.

WELT: Wie nehmen Sie den gesellschaftlichen Diskurs wahr – als jemand, der bei der Lautstärke nicht mithalten kann?

Pau: Das kann ich im Zweifel, das kann ich Ihnen versichern. Das Problem ist aus meiner Sicht auch nicht die Lautstärke oder die Härte. Früher gab es auch sehr schmerzhafte politische Auseinandersetzungen. Ich habe nicht vergessen, welchen Anfeindungen wir als PDS anfangs im Bundestag ausgesetzt waren. Wir waren die Kommunisten, mit denen man nicht sprach. Umgekehrt war die Union der Klassenfeind. Aber es war trotzdem eine andere Art des Umgangs, weil im Gegensatz zu früher inzwischen Gewalt den Einzug in die Gesellschaft gefunden hat. Diese Entwicklung reicht mit der AfD bis auf die Flure des Bundestags. Und die ist ja nicht vom Himmel gefallen.

WELT: Was meinen Sie damit?

Pau: Der Soziologe Wilhelm Heitmeyer hat schon 2011 eine Untersuchung vorgestellt, in der er zu dem Schluss kam, dass die gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und die Akzeptanz von Gewalt als Politikersatz zunehmen. Es gab einen Nebenfund, der mich damals stutzig machte: Dass bei den über 60-Jährigen die Akzeptanz der Gewalt am höchsten war.

WELT: Heute wundert Sie das nicht mehr?

Pau: Seit ich die wütenden Bürger gesehen habe, die offenen Nazis und gewalttätigen Rechtsextremisten Beifall zollen, weiß ich, wen Heitmeyer meinte. Es gibt eine Gruppe von Menschen in Deutschland, die nicht selbst zur Gewalt greifen, aber sie finden es in Ordnung, wenn es andere tun. Das ist exakt das Geschäftsmodell der AfD: Sie legt den rhetorischen Brandsatz und hofft, dass ihn da draußen jemand anzündet.

WELT: Wie haben Sie den Diskurs in diesem Pandemie-Jahr erlebt – auch im Bundestag?

Pau: Im Parlament hat sich nicht viel geändert. Was mich aber erschreckt, ist, wie viele Leute auf Verschwörungsideologie anspringen und sich radikalisieren. Damit meine ich auch rhetorische Radikalisierung. Nach den Ausschreitungen der „Querdenker“ im August habe ich viele Briefe aus meinem Wahlkreis bekommen. Ich glaube, diese Menschen zu kennen und zu erreichen – immerhin bin ich die gewählte Direktkandidatin. Es hat mich erschrocken, wie viel aggressives Vokabular ich gelesen habe. Für diese Menschen sind wir im Bundestag alle Verbrecher, die jeden Morgen aufstehen und nur darüber nachdenken, wie wir bestmöglich das Virus instrumentalisieren können, um das Leben der Bürger kaputtzumachen. Wie viele diese Erzählung übernehmen, war für mich erschreckend.

WELT: Welche Fehler sehen Sie hinsichtlich dieser Entwicklung bei sich und Ihrer Partei?

Pau: Wir müssen uns fragen, wann der Kontakt zu den Menschen abgebrochen ist, und daraus Schlüsse für das kommende Wahljahr ziehen – nicht nur programmatisch, sondern kommunikativ. Alle etablierten Parteien. Wir müssen mit denen, die gesprächsbereit sind, im Gespräch bleiben.

WELT: Mit den Menschen sprechen – das Rezept gibt es seit Jahren. Allein das scheint nicht zu reichen.

Pau: Ich komme gerne auf Heitmeyer zurück. Der lieferte eine Erklärung: Die Entleerung der Demokratie und die Ökonomisierung des Sozialen – das sehen wir etwa bei den Themen Pflege, Krankenwesen, Wohnen oder Verkehr. Das entschuldigt weder Rechtsextremismus noch Rassismus. Aber es sind zwei wichtige Befunde. Wir müssen das Rad zurückdrehen und brauchen außerdem mehr direkte Demokratie – auch auf Bundesebene. Das Volksbegehren zu „Deutsche Wohnen enteignen“ zeigt, dass das Menschen aktiviert und mitnimmt.

WELT: Es gibt auch die Klage, manche Dinge seien nicht mehr sagbar – zum Beispiel Kritik an ungeregelter Migration. Ist das nicht auch ein Erklärungsansatz, warum die etablierten Parteien den Kontakt zu einem Teil der Bevölkerung verloren haben?

Pau: In unserem Land darf jeder über alles reden – zum Beispiel Corona leugnen und auf die Straße gehen. Aber wenn zu Gewalt aufgerufen wird, ist die Grenze für mich überschritten. Da muss sich auch jeder, der aus womöglich legitimen Gründen sauer ist, distanzieren.

WELT: Wie versuchen Sie, den Kontakt wiederherzustellen?

Pau: Ich mache nach wie vor Präsenzsprechstunden in meinem Wahlkreis. Und da sind viele dabei, die an den Corona-Maßnahmen zweifeln und sich in die Demonstrationen eingereiht haben. Aber ich höre zu, nehme ernst und diskutiere. Ich sage, dass ich ihre Meinung nicht teile, aber zugleich anerkenne, dass sie das Recht zu dieser Meinung haben. Und dann frage ich, was ich als Abgeordnete noch für sie tun kann. Klare Haltung und Zugewandtheit sind kein Widerspruch.

WELT: Inzwischen werden die Corona-Maßnahmen der Bundesregierung kritisiert und diskutiert. Gerade im Frühjahr war die Opposition aber sehr lange zurückhaltend mit Kritik. Zu lange?

Pau: Die Parlamente müssen viel selbstbewusster agieren. Im Bund und in den Ländern. Wir müssen aus der Hinterhand rauskommen, endlich den Ton in dieser Pandemie angeben und die Themen setzen. In jeder Sitzungswoche muss sich die Regierung erklären. Ob das die Kanzlerin tut, der Gesundheitsminister oder der Wirtschaftsminister, sollte sich nach dem gewählten Schwerpunkt des Parlaments richten. Der Bundestag muss deutlich machen, wo er die Prioritäten sieht – und dann können sich Kanzlerin und Ministerpräsidenten anschließend treffen und darüber diskutieren.

Die Welt,