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Freihandelsabkommen gefährdet Sozial- und Umweltstandards

Im Wortlaut von Alexander Ulrich,

Von Alexander Ulrich, parlamentarischer Geschäftsführer





Die jüngste politische Einigung zum Freihandelsabkommen zwischen der EU und Kanada könnte auch in die Verhandlungen mit den USA um die so genannte "Transatlantischen Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP)" neuen Schwung bringen. Das hoffen jedenfalls Wirtschaftsverbände wie der Bund der Industriellen (BDI). Kein Wunder, schließlich ist der US-amerikanische Markt fast zehnmal so groß wie der kanadische und damit für die hiesige Industrie wesentlich interessanter.

Geringfügige Wachstums- und Beschäftigungseffekte

Es überrascht daher nicht, dass der Verhandlungsauftakt mit den USA von einer riesigen Pro-Freihandels-Kampagne in den Medien begleitet wurde, die seither von verschiedenen Interessengruppen immer wieder befeuert wird. So wurde auf Basis eines "Folgenabschätzungsberichtes" der EU-Kommission ein regelrechtes Jobwunder versprochen. Um einen Prozentpunkt würde das Wirtschaftswachstum steigen, Millionen neuer Jobs beiderseits des Atlantik würden entstehen. Der jährliche Mehrwert würde 545 Euro pro Familie betragen. Weitere Studien wurden nachgelegt. Zuletzt gab die Bertelsmann-Stiftung bekannt, dass zwei Millionen neue Jobs entstehen könnten. Auch der BDI lässt keine Zweifel zu: Deutschland braucht den Freihandel. Doch wie glaubwürdig sind diese Erkenntnisse? Und welche weiteren Folgen hätte der große Freihandelsdeal?

Zunächst: Der eine Prozentpunkt Mehrwachstum, die Millionen neuer Jobs und die 545 Euro pro Familie beruhen auf einem Szenario, das selbst die EU-Kommission nicht für wahrscheinlich hält. Es handelt sich um das optimistischste Szenario innerhalb des Folgenabschätzungsberichtes. Dieses Szenario beinhaltet die Annahmen, dass im Rahmen der Verhandlung alle (!) Zölle zwischen EU und USA abgebaut werden, dass es zu einer sehr weiterreichenden Angleichung von Produkt-, Arbeits-, Verbraucherschutz- und Umweltstandards kommt und dass die Auswirkungen dieser Maßnahmen sehr groß sind. Geht man hingegen von einem mittleren Szenario aus, ergibt sich ein Wachstumseffekt von 0,1Prozent – und zwar in zehn Jahren. Die Beschäftigungseffekte dürften bescheiden bleiben.

Auch die Bertelsmann-Zahlen können bei nüchterner Analyse kaum beeindrucken. Bei einem vorsichtigen Szenario geht die Studie beispielsweise für Deutschland von einem Rückgang der Arbeitslosenquote um 0,11Prozent aus – nicht jährlich, sondern insgesamt. Auch in den krisengebeutelten Staaten Südeuropas mit ihren exorbitanten Arbeitslosenquoten von über 25 Prozent sind die Effekte kaum größer. Für Spanien erwartet die Bertelsmann-Stiftung einen Rückgang der Arbeitslosenquote um 0,16 Prozent, für Griechenland um 0,17 Prozent.

Statt diesen Zahlen stellt Bertelsmann in den Vordergrund, dass bis zu zwei Millionen neue Jobs entstehen könnten. Klingt gut. Allerdings beruht diese Zahl auf einem unrealistisch optimistischen Szenario. Zudem sind zwei Millionen schon nicht mehr soviel, wenn man bedenkt, dass in der EU und den USA rund 800 Millionen Menschen leben. Dass Bertelsmann die eigenen Ergebnisse derart verfälscht darstellt, ist auf das Eigeninteresse des Konzerns am Freihandel mit den USA zurückzuführen. Als eines der größten Medienimperien Europas liegt Bertelsmann vor allem der stärkere Schutz geistigen Eigentums am Herzen, der durch das Abkommen erreicht werden soll.

Abbau von Sozial- und Umweltstandards

Doch einmal abgesehen von den fragwürdigen Wachstums- und Beschäftigungseffekten: Welche Konsequenzen hätte die TTIP? Klar ist: Abgesehen von der Ausnahme "audiovisueller Medien" kommt alles auf den Verhandlungstisch – von Umweltstandards über Arbeitnehmerrechte, Gesundheitsversorgung und Verbraucherschutzregeln bis hin zur Finanzmarktregulierung. Stets mit dem Ziel, Standards zu harmonisieren, also auf den kleinsten gemeinsamen Nenner runterzuschrauben.

Insofern sind der Phantasie bezüglich möglicher Konsequenzen kaum Grenzen gesetzt. Werden Umwelt- und Verbraucherschutzstandards auf US-Niveau gesenkt, könnten sich gentechnisch veränderte Nahrungsmittel bald ungekennzeichnet neben Chlorhühnern in europäischen Supermarktregalen finden. Werden die Arbeitnehmerrechte entsprechend gesenkt, wird die gewerkschaftliche Organisation womöglich bald politisch erschwert werden. Die USA haben wichtige ILO-Normen, die das Recht auf die Organisierung von Arbeitnehmern festschreiben, nicht anerkannt und verfolgen in Teilen des Landes eine extrem gewerkschaftsfeindliche Politik. Umgekehrt könnten die jüngsten Finanzmarktregeln der US-Regierung im Rahmen der Freihandelsverhandlungen wieder abgeschafft werden. Die EU drängt auf eine neue Welle der Finanzmarkt-Deregulierung.

Dies sind nur einige Beispiele. Weitere sind die Liberalisierung der öffentlichen Auftragsvergabe und mögliche Privatisierungen öffentlicher Dienstleistungen. Was tatsächlich kommt, wird sich erst im Laufe des Verhandlungsprozesses erkennen lassen. Fest steht: Die TTIP ist ein breit angelegter Angriff auf soziale Rechte und Umweltstandards.

Investitionsschutz statt demokratischer Gestaltung

Über den umfassenden Abbau von Standards hinaus verdient vor allem das Vorhaben der EU Beachtung, ein so genanntes Investitionsschutz-Kapitel im Abkommen zu verankern. Dadurch sollen US-amerikanische Investoren, die in Europa investieren, und umgekehrt, besondere Klagerechte gegen Staaten erhalten, wenn deren Politik ihre Investition bedroht. Solche Kapitel wurden in der Vergangenheit vor allem in Abkommen verankert, an denen Länder mit unstabilen politischen Verhältnissen und korrupten politischen Eliten beteiligt waren. Das Geschäftsklima sollte verbessert werden, weil die Klagemöglichkeiten die Investoren vor staatlicher Enteignung schützen.

In einem Abkommen zwischen der EU und den USA trägt diese Erklärung nicht. Worum es eigentlich geht, verdeutlicht eine Formulierung, nach der Investoren auch vor "indirekter Enteignung" geschützt werden sollen. Als indirekte Enteignung lässt sich faktisch alles interpretieren, was die Gewinne oder Gewinnerwartungen eines Konzerns negativ beeinträchtigt. Wenn zum Beispiel die EU ein Produktionsmaterial verbietet, weil es für gesundheitsschädlich gehalten wird, dann schmälert dieses Verbot die Gewinnerwartungen von Konzernen, die dieses Material verwenden. Wenn die USA ein Finanzderivat verbieten wollen, das sie für gefährlich halten, dann schmälern sie die Gewinnerwartungen von Investmentbanken, die mit diesem Derivat spekulieren. Beide könnten vielleicht künftig dank der TTIP Schadensersatzforderungen erheben – mitunter in Milliardenhöhe.

Zahlreiche Beispiele aus anderen Abkommen zeigen: In der Regel haben die Kläger gute Erfolgsaussichten. Die dafür zuständigen Schiedsgerichte stehen außerhalb und über den staatlichen Justizsystemen. Sie sind anfällig für Korruption. Klagen können nur die Konzerne, Revisionsverfahren gibt es nicht. Letztlich würde ein solches Kapitel eine systematische Machtübertragung von gewählten Regierungen zu Banken und Konzernen bedeuten. Demokratische Gestaltungsmöglichkeiten würden extrem eingeschränkt werden. Damit bedeutet die TTIP auch einen Angriff auf demokratische Rechte.

Fazit

Die TTIP ist eine ernste Angelegenheit. Zahlreiche soziale, demokratische und ökologische Errungenschaften stehen zur Disposition. Die angekündigten Wachstums- und Beschäftigungseffekte sind hingegen reine Augenwischerei. Ob das Abkommen durchgesetzt werden kann, ist allerdings noch nicht ausgemacht. DIE LINKE und zahlreiche zivilgesellschaftliche Organisationen werden alles daran setzen, es scheitern zu lassen.

linksfraktion.de, 21. Oktober 2013