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Feiern Sie am 9. November den Mauerfall oder trauern Sie?

Im Wortlaut von Gregor Gysi,

Gregor Gysi unterhielt sich mit Bild am Sonntag über den künftigen Fraktionsvorstand, politische wie private Ost-West-Kombinationen, sein Verhältnis zum Mauerfall und zur SPD.

Bild am Sonntag: Herr Gysi, bei der Linkspartei ist demnächst Damenwahl. Nachdem Ihr bisheriger Co-Fraktionschef Oskar Lafontaine den Job nicht weitermachen will, sollen Sie künftig mit einer West-Frau die Fraktion führen. Wen hätten Sie gerne an Ihrer Seite?

Gregor Gysi: Ich nenne doch jetzt keinen Namen! Nein, das Frauenplenum ist jetzt dran. Es muss entscheiden, ob es das überhaupt will, auch hinsichtlich einer West-Frau. Ich bin da ganz ruhig. Wir müssen natürlich den Wechsel an der Spitze irgendwann vorbereiten. Aber Oskar und ich sind zwei Alpha-Tiere. Deshalb weiß ich gar nicht genau, ob ich als Frau wirklich dazu Lust hätte.

Sind politische Paarungen an der Spitze der Fraktion wie West-Mann/Ost-Frau oder umgekehrt 20 Jahre nach dem Fall der Mauer nicht ziemlich antiquiert?

Eigentlich ja. Aber die PDS und die WASG haben sich erst 2007 vereinigt. Im Osten sind wir Volkspartei, haben 16 Direktmandate geholt. Im Westen sind wir eine Interessenpartei. Die Kernaufgabe von Oskar und mir besteht darin, die Vereinigung der Partei hinzukriegen. Wenn wir das geschafft haben, können wir an die nächste Generation übergeben.

Also treten Sie vor 2013 aus der ersten Reihe ab?

Moment! Wir haben doch schon in vier Jahren neue Wahlen. Wie alt bin ich da?

65.

Richtig. Und das Renteneintrittsalter wurde doch gerade erhöht. Sie können mich doch nicht vorzeitig in den Ruhestand schicken.

Der 9. November 2009 naht und damit der 20. Jahrestag des Mauerfalls. Ist das für Sie ein Tag zum Feiern oder eher zum Trauern?

Die Mehrheit der Mitglieder unserer Partei kommt aus den alten Bundesländern. Und die Mitglieder aus den neuen Bundesländern sind zu einem immer größeren Teil so jung, die können sich ein Leben mit der Mauer überhaupt nicht vorstellen. Letztendlich haben aber alle begriffen, dass der Mauerfall ein Akt der Befreiung war. Eine Gesellschaft darf und kann man nicht geschlossen halten.

Welche Gedanken und Gefühle verbinden Sie mit dem Fall der Mauer?

Im Juli 1961 hatte mein Vater für mich und meine Schwester einen Besuch des Berliner Westteils organisiert. Wir waren im Hilton Essen, auf dem Funkturm und im Kino. Für mich als 13-Jährigen unglaublich! Ich hatte immer den Verdacht, dass mein Vater den Mauerbau ahnte. Er hat das aber immer bestritten. Im Januar 1988, mit 40 Jahren, konnte ich wieder in den Westen reisen. Nach Paris, das hat mich verändert. Ich war dort in einem Laden mit 300 Sorten Käse, in der Kaufhalle gab es nur zwei bis drei Sorten. Als ich wiederkam, sagte ich der Bezirksleitung der SED: Man kann den Frauen bis 60 Jahren und den Männern bis 65 Jahren nicht sagen: Ihr dürft vorher nicht Städte wie Paris sehen.

Wird es noch einmal 20 Jahre dauern, bis die SPD und die politischen Nachfahren der SED sich wieder vereinigen?

Alles, was in meiner Macht steht, werde ich gegen eine Vereinigung tun. Erstens: Die SPD will den Kapitalismus sozialer gestalten. Ich glaube aber, dass der Kapitalismus nicht die letzte Antwort der Geschichte ist. Ich bin demokratischer Sozialist. Ich würde aber niemals wieder eine sozialistische Diktatur akzeptieren. Zweitens: Die SPD hat immer die Tendenz, sich nach rechts zu entwickeln. Das wird um so stärker passieren, wenn es kein Korrektiv links von ihr gibt. Drittens: Ich will nicht als Sozi sterben. Das muss doch nicht sein.

Sigmar Gabriel beschreibt den Zustand der SPD als katastrophal und sagt voraus, es werde lange dauern, aus diesem tiefen Tal herauszukommen. Müssen Sie die SPD als Partner in der Opposition auf längere Sicht abschreiben?

Die SPD hat gegenwärtig keinen Platz mehr in der Gesellschaft gefunden. Sie ist als zweite Union abgewählt und sie kann jetzt nicht die zweite Linkspartei werden. Gerhard Schröder hat die SPD entsozialdemokratisiert und das hat Folgen bis heute und darüber hinaus.

Kann Sigmar Gabriel die SPD retten?

Es tut mir leid, das sagen müssen: Ich sehe in der SPD keine herausragende Persönlichkeit, die, wie einst Willy Brandt, der Partei sagen konnte: Das ist unser Standort, das ist mit uns zu machen und das nicht.

Im Bundestag werden Sie es in erster Linie mit dem neuen SPD-Fraktionsvorsitzenden Steinmeier zu tun haben. Akzeptieren Sie ihn als Oppositionsführer?

Der kann nicht mal Opposition sein, von Führer ganz zu schweigen. Vom Afghanistankrieg über Hartz IV und Gesundheitsfonds bis zur Mehrwertsteuer hat er doch alles mitbeschlossen. Ich verstehe nicht, was da in Steinmeiers Kopf vorgeht, welche Rolle er spielen will. Im Übrigen: Die einzige Opposition werden wir sein. Denn die Grünen gehen im Saarland mit CDU und FDP zusammen und wollen hier dagegen Opposition sein. Wer soll denn das ernstnehmen?

Das bedeutet doch: Das linke Lager, das im alten Bundestag eine rechnerische Mehrheit hatte, ist von einer Machtübernahme weit entfernt.

Das hängt zum einen von den Grünen ab, die gerade ins bürgerliche Lager wechseln. Wahrscheinlich wollen sie es wie früher die FDP halten: Mal so, mal so. Und für die SPD gilt: Wenn sie sich nicht neu findet, geht sie den Weg in die Bedeutungslosigkeit.

Ihre Frau Andrea war früher für die PDS im Bundestag und ist 2002 aus der Partei ausgetreten. Haben Sie noch Hoffnung auf eine Rückkehr?

Ich dränge meine Frau und auch meine zwei Söhne nicht, die ebenfalls nicht in der Partei sind. Aber meine Frau und meine Kinder unterstützen mich sehr. Ohne Andrea würde ich vieles nicht schaffen. Darauf kommt es doch an!

Ihre Frau ist Rechtsanwältin und kommt aus dem Westen. Privat leben Sie also die Einheit. Ein Erfolgsmodell?

Ein Erfolgsmodell mit bleibenden Widersprüchen. Ich behaupte noch immer, dass man im Westen keinen Senf herstellen kann, und sie bestreitet das. Doch Löwen-Senf ist keiner, es gibt nur Bautzener. Aber im Ernst: Die ganze Kultur und die Art der Kommunikation ist eine andere.

Was meinen Sie konkret?

Es gibt Dinge, über die meine Frau sich ungeheuer aufregen kann, die ich gelassen nehme. Und umgekehrt. Ein Beispiel: Als vor vielen Jahren unsere Tochter mal einen Nuckel im Mund hatte, sagte eine Ostdeutsche: „Typisch Wessikind“. Da hat sich Andrea furchtbar drüber aufgeregt, ich habe mich eher amüsiert. Und umgekehrt bin ich auf 180, wenn einer sagt: „Das kannst du nicht verstehen, du bist ja aus dem Osten.“ Das findet sie dann lustig.

Sie beide sind ja eher die Ausnahme von der Regel, dass West-Männer mit Ost-Frauen leben ...

Völlig richtig. Deswegen wollte ein Professor uns auch erforschen. Dem habe ich gesagt: Das können Sie vergessen. Er hat mir aber dennoch erklärt, warum die Kombination Ost-Mann/West-Frau so selten sei. Er erklärte: „Das ist wie mit Polen. Polinnen heiraten deutsche Männer, aber deutsche Frauen kaum Polen.“ Das soll doch sagen: Das eine gilt als die höhere und das andere als die niedrigere Gesellschaft. Meine Tochter ist jetzt 13. Deren Generation wird die Einheit hinbekommen. Der kann ich schon heute die DDR kaum erklären. Die ist für sie so weit weg wie das Mittelalter.

Interview: Michael Backhaus und Angelika Hellemann

Bild am Sonntag, 25. Oktober 2009