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»Europaweit Kürzungen bei Bildung und Arbeit stoppen«

Interview der Woche von Agnes Alpers,

Agnes Alpers, Sprecherin für berufliche Aus- und Weiterbildung, über die dramatische Jugendarbeitslosigkeit in Europa, das deutsche duale Ausbildungssystem, die "Jugendgarantie" der EU und eine vermeintlich rosige Situation in Deutschland


Mehr als jeder vierte junge Mensch in Europa, der jünger ist als 25 Jahre, hat keinen Job. Ist es ein gesamteuropäisches Problem oder gibt es regionale Unterschiede?

Agnes Alpers: Das gesamteuropäische Problem ist, dass wir keine verlässlichen Perspektiven für alle jungen Menschen sichern. Durch die Finanzkrise verschärft sich die Lage in den einzelnen Ländern jedoch unterschiedlich. So liegt die Jugendarbeitslosigkeit in Griechenland bei über 60 Prozent, in Deutschland spricht man offiziell von rund acht Prozent.

Steht Deutschland wirklich gut da? Auch hier gibt es Jahr für Jahr zwar viele offene Ausbildungsstellen, aber eben auch viele Bewerberinnen und Bewerber, die leer ausgehen und keine Stellen finden.

Durch Zahlenspielertricks bei der Ausbildungsstatistik stehen wir scheinbar gut dar. Schauen wir uns aber die Zahlen genauer an, so erhalten nur etwa zwei Drittel, die an einer  Ausbildung interessiert sind, einen Ausbildungsplatz. In meinem Bundesland Bremen erhalten sogar nur 30 Prozent der ausbildungsinteressierten Schulabgängerinnen und Schulabgänger einen Ausbildungsplatz. Besonders ausgeschlossen von Ausbildung werden junge Menschen mit Migrationshintergrund, mit Behinderung, mit geringen Schulabschlüssen und Frauen. Durch die jahrzehntelang verfehlte Ausbildungspolitik haben wir in Deutschland mittlerweile fast 1,5 Millionen junge Menschen zwischen 20 und 29 Jahren ohne Berufsabschluss, zwischen 20 und 34 Jahren sind es 2,2 Millionen. Sie sind doppelt so häufig arbeitslos, arbeiten oft prekär und haben kaum Chancen, sich ein selbstbestimmtes Leben durch Arbeit aufzubauen.

Gleichzeitig beklagen viele Betriebe und auch die Bundesregierung, dass es nicht genügend Auszubildende gebe und viele Stellen unbesetzt blieben. Wie passt das zu diesen Zahlen?

Unbesetzte Ausbildungsstellen sind häufig in genau den Ausbildungsberufen zu finden, die sich durch schlechte Qualität der Ausbildung und schlechte Zukunftsperspektiven auszeichnen. Und es gibt Regionen, in denen die Zahl der Schulabgänger in den letzten Jahren stark zurückgegangen ist. Insgesamt haben wir aber trotzdem jährlich fast 270.000 junge Menschen, die im sogenannten Übergangssystem untergebracht werden, obwohl sie einen betrieblichen Ausbildungsplatz bekommen wollen. Deshalb sollte die Bundesregierung weniger über unbesetzte Arbeits- und Ausbildungsplätze lamentieren, sondern endlich handeln: das Recht auf Ausbildung für alle umsetzen, Qualität in der Ausbildung sichern und Perspektiven nach der Ausbildung schaffen.

Dennoch wird stets behauptet, das deutsche duale Ausbildungssystem habe weltweit Modellcharakter. Kann man es exportieren?

Das duale Ausbildungssystem kann man nicht eins zu eins exportieren. In vielen europäischen Ländern ist das Ausbildungssystem schulisch organisiert. Dadurch gibt es wenig Bezugspunkte zur Arbeitswelt. Betriebliche Praxis sichert aber praktische Kompetenzen und schafft Verbundenheit zu den Betrieben. Es geht nun darum, interessierte Länder darin zu unterstützen, durch ein neues Theorie-Praxis-Verhältnis verlässliche Perspektiven für die jungen Menschen aufzubauen.

Die EU hat Anfang dieses Jahres eine Jugendgarantie beschlossen. Was ist das?

Diese EU-Jugendgarantie ist eingebettet in die EU-Jugendstrategie 2010-2018. Für den zweiten Zyklus ab 2013 hat der Rat der EU die Jugendgarantie für die Mitgliedstaaten verabredet: Allen jungen Menschen unter 25 Jahren soll innerhalb eines Zeitraumes von vier Monaten, nachdem sie arbeitslos geworden sind oder die Schule verlassen haben, eine hochwertige Arbeitsstelle oder Weiterbildungsmaßnahme oder ein hochwertiger Ausbildungs- oder Praktikumsplatz angeboten werden. Dafür wurde ein 6-Milliarden-Euro-Programm aufgelegt, das aus Mitteln der Europäischen Union finanziert wird.

Ist diese Initiative aus Ihrer Sicht geeignet, jungen Menschen den Einstieg ins Berufsleben zu ermöglichen und eine nachhaltige Perspektive zu eröffnen?

Das 6-Milliarden-Programm kann nur ein Schritt sein, um nachhaltige Perspektiven für alle in Europa zu schaffen. Wer Perspektiven schaffen will, muss europaweit Kürzungen bei Bildung und Arbeit stoppen. Ansonsten werden wir die Abwärtsspirale in ganz Europa nicht beenden können. Dies gilt sowohl für die junge Generation in Griechenland, Spanien oder Portugal als auch für mehr als zwei Millionen Menschen bis 34 Jahre, die in Deutschland ohne Ausbildung dastehen.

Ursula von der Leyen stellt heute gemeinsam mit ihrem französischen Amtskollegen eine Initiative vor, in deren Rahmen sie das 6-Milliarden-Programm der EU nochmals im Milliardenbereich aufstocken will. Ist das sinnvoll?

Zunächst einmal muss man abwarten, inwieweit die einzelnen Staaten überhaupt das 6-Milliarden-Paket nutzen, um für junge Menschen berufliche Perspektiven zu schaffen. Insofern riecht das Aufstockerprogramm zunächst einmal nach persönlicher Profilierung von Ministerin von der Leyen und ihrem französischen Kollegen Sapin. Zweitens geht es hier bisher nicht um ein inhaltliches Projekt, sondern um bloße Kredite durch die Europäische Investitionsbank. Es muss dabei bleiben, dass diese öffentlichen europäischen Mittel nicht an Kredite gekoppelt werden. Denn dadurch konstruiert man Abhängigkeiten zu Banken und setzt eine direkte Förderung ohne Kredite und Zinsen außer Kraft. Und drittens ist unklar, welche Vorteile dieser scheinbare "New Deal" für Europa haben soll. Bisher wirbelt Frau von der Leyen viel Staub auf, macht aber keine konkreten Aussagen darüber, wie sie junge Menschen in Ausbildung und  Arbeit und bringen will.

Der deutsche Arbeitsmarkt sieht für junge Menschen wenigstens im europäischen Vergleich recht rosig aus. Gleichzeitig fehlen hierzulande Fachkräfte. Bietet es sich nicht an, um Schulabgänger aus anderen Ländern zu werben, wie die Ministerinnen Wanka und von der Leyen es vorschlagen, und ihnen hier Arbeits- und Ausbildungsmöglichkeiten anbieten?

Mehr als 260.000 im sogenannten Übergangssystem, fast 1,5 Millionen Menschen zwischen 20 und 29 Jahren ohne Berufsabschluss, so rosig sieht es nun wahrlich nicht aus. Wir wollen junge Menschen in Europa nicht gegeneinander ausspielen, sondern das Recht auf Ausbildung für alle umsetzen. Wenn wir junge Menschen aus anderen europäischen Ländern anwerben, muss man diesen jungen Menschen auch soziale und gesellschaftliche Teilhabe in vollem Umfang sichern. Es darf nicht darum gehen, sie als billige Arbeitskräfte zu rekrutieren. Für uns gilt: Ausbildung statt Ausbeutung garantieren sowie Qualität in der Ausbildung  und Perspektiven nach der Ausbildung schaffen. Und wir sollten im Auge behalten, was wir in anderen europäischen Ländern bewirken, wenn wir dort Fachkräfte und junge Leute mit guten Schulabschlüssen in großem Stil abziehen. Wir als LINKE wollen vielmehr Perspektiven vor Ort schaffen und gleichwertige Lebensbedingungen in ganz Europa sichern.

linksfraktion.de, 28. Mai 2013